Wann immer ich die Floskel lese, dass die “Geschichte” von irgendetwas “umgeschrieben werden muss”, kriege ich dicke Pusteln: Geschichte wird nur dann umgeschrieben, wenn sie gefälscht wird – ansonsten wird sie fortgeschrieben. Aktualisiert, ja – redigiert, nein! Trotzdem lese ich das immer wieder – und ganz besonders ärgerlich ist es, wenn es in einem ansonsten respektablen Medium wie beispielsweise der New York Times geschieht:
Es geht hier um die Entdeckung Beschreibung eines ca. 1,8 Milliarden Millionen Jahre alten Homo-erectus-Schädels, von dem sich Wissenschaftler einen etwas “schlankeren” Stammbaum unserer menschlichen Vorfahren versprechen (und selbst die BILD-Zeitung, zumindest in ihrer Online-Ausgabe, hat sich das Klischee der Geschichtsumschreibung verkneifen koennen).
Abgesehen davon muss ich zugeben, dass ich das “Sensationelle” an dieser Veröffentlichung nicht ganz kapiere: Es ist sicher sehr bemerkenswert, dass es sich um den bisher komplettesten Schädel eines 1,8 Millionen Jahre alten Homo erectus handelt, und es ist auch ebenso bemerkenswert, dass anhand der Überreste von mindestens vier weiteren Exemplaren am gleichen Fundort (Dmanissi in Georgien) belegbar ist, wie groß die phänotypische Variabilität innerhalb einer Art sein kann. Doch Letzteres ist weder neu noch wirklich überraschend: Wir sehen doch tagtäglich, wie unterschiedlich groß und massig die Körperformen unserer Mitmenschen sind, und kaum zwei Köpfe in einem Zugabteil haben die gleiche Form. Warum soll das in einer früheren Phase unserer Entwicklung anders gewesen sein?
Mit dem Problem, aus den Eigenschaften von Einzelfunden auf die Eigenschaften einer Art schliessen zu müssen, kämpfen PaläontologInnen schließlich seit dem Beginn ihrer Wissenschaft: So wurden zum Beispiel die Apatosaurier und Brontosaurier anfänglich vom gleichen Forscher (Othniel Charles Marsh) im späten 19. Jahrhundert für zwei verschiedene Arten Gattungen gehalten, und generell stehen die ForscherInnen oft vor dem Problem, dass eine einzelne Art im Laufe ihres Lebens sehr starke – und leicht als Artenvielfalt fehlinterpretierbare – Veränderungen durchmachen kann.
Doch das ist Teil des wissenschaftlichen Prozesses: Jeder neue Hinweis, jede neue Erkenntnis ergänzt und korrigiert den bisherigen Erkenntnisstand. “Wissen” ist der gesamte Fundus, zu dem auch widerlegte Erkenntnisse zählen – die manchmal sogar “wiederbelebt” werden müssen, wie dieses kleine Beispiel hier zeigt. Das einzige, was in solchen Fällen wie dem eingangs zitierten Artikel der New York Times umgeschrieben werden muss, ist … der Artikel selbst. Und im Fall der New York Times ist das auch geschehen: Die Schlagzeile in der Online-Version des Artikels ist bereits zu “Skull Fossil Suggests Simpler Human Lineage” – Schädelfossil legt einfachere menschliche Abstammungslinie nahe – abgemildert worden. Aber das Klischee der umgeschriebenen (Evolutions-)Geschichte im ersten Absatz hat weiterhin überlebt.
Kommentare (5)