Whoa! war meine erste Reaktion, als ich auf nature online den Satz las Bid to use common anaesthetic for executions threatens to cut off supply to US hospitals. Doch dieser drohende Nachschub-Engpass läge keineswegs daran, dass für Hinrichtungen in den USA enorme Mengen an Betäubungsmitteln benötigt werden – selbst als die US-Henker Hochkonjunktur hatten, nämlich im Jahr 1999, wurden “nur” 98 Personen vom Leben zum Tod befördert, wie es so euphemistisch heißt. Sicher nicht genug, um die Narkosemittel-Vorräte der USA aufzuzehren.

Und doch: Wenn der Gouverneur von Missouri, Jay Nixon, nicht kurzfristig die Exekution von Alan Nicklasson ausgesetzt hätte, würde den US-Kliniken bald schon ein Nachschubmangel für das Narkosemittel Propofol drohen – weil die EU-Verordnung (EG) Nr. 1236/2005 den Export von Gütern und Hilfsmitteln untersagt, die bei der Vollstreckung von Folter und Todesstrafen eingesetzt werden. Noch ist Propofol, das überwiegen in Deutschland hergestellt und in den USA alljährlich etwa 50 Millionen Mal eingesetzt wird, von diesem Embargo nicht betroffen, da es bisher nicht bei Hinrichtungen verwendet wurde. Doch seit dem Inkrafttreten der EU-Vorschrift sind die USA bereits von der Versorgung mit Thiopental abgeschnitten, das bislang als Narkotikum den tödlichen “Cocktail” beigemischt wurde, der in den meisten Staaten der USA als Hinrichtungsmethode gegeben wird. Auf der Suche nach einem Ersatz wollte die Justiz in Missouri nun Propofol verwenden; wäre dies tatsächlich benutzt worden, dann hätte 1236/2005 auch hierauf Anwendung finden müssen, mit schweren Folgen für Millionen Patienten in den USA.

Ich bin, wie ich hier schon wiederholt ausgedrückt habe, grundsätzlich und uneingeschränkt gegen die Todesstrafe. Dennoch habe ich eine Zeitlang darüber nachdenken müssen, ob es gerecht und moralisch vertretbar ist, Millionen von amerikanischen Patientinnen und Patienten durch Vorenthalten eines wichtigen Medikaments quasi zu “Geiseln” einer europäischen Anti-Todesstrafen-Politik zu machen – und ganz wohl fühle ich mich bei diesem Gedanken in der Tat nicht. Weil Medizin, zu der ja im weiteren Sinn auch die Medikation gehört, einfach nie zum Spielball der Politik gemacht werden dürfte, sondern nur dem Wohlergehen der Patientinnen und Patienten verpflichtet sein sollte.

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Kommentare (14)

  1. #1 Sven Türpe
    28. Oktober 2013

    Mit welchen Mitteln sollte Europa seine Menschenrechtspolitik umsetzen? Wie wirksam wären diese Mittel?

  2. #2 NilsOlivier
    28. Oktober 2013

    Hallo Jürgen,

    ich denke nicht, dass hier Patienten als Geiseln genommen werden, schließlich kann der amerikanische Staat (bzw. die Bundesstaaten) Menschen auch durch Erhängen, Erschießen, Vergasen, etc. töten, ohne auf diese Narkotika zurückgreifen zu müssen.
    Die Amerikaner dürfen also nach wie vor Mörder töten, wenn sie es wollen, nur sollen sie dazu eben keine Medikamente benutzen.

  3. #3 Spritkopf
    28. Oktober 2013

    Wenn der Gouverneur von Missouri, Jay Nixon, nicht kurzfristig die Exekution von Alan Nicklasson ausgesetzt hätte, würde den US-Kliniken bald schon ein Nachschubmangel für das Narkosemittel Propofol drohen – weil die EU-Verordnung (EG) Nr. 1236/2005 den Export von Gütern und Hilfsmitteln untersagt, die bei der Vollstreckung von Folter und Todesstrafen eingesetzt werden.

    Diese EU-Verordnung unterscheidet aber zwischen Gütern, die außer für Folter und Hinrichtung zu keinem anderen Zweck eingesetzt wird und solchen, die auch zu anderen Zwecken eingesetzt werden. Für erstere gilt ein Ausfuhrverbot, für letztere eine genehmigungspflichtige Ausfuhrkontrolle. Somit muss sich der Hersteller die Ausfuhr zwar genehmigen lassen, aber US-Patienten haben nach wie vor Zugriff auf das Medikament.

  4. #4 Erfahrener Blödkopp
    Nordatlantisches Randmeer
    28. Oktober 2013

    Irgendwie hab ich jetzt nen Knoten im Kopp.:( Nasse Handtücher dürfen also nicht aus EU nach USA exportiert werden? Und wenn doch, können die die überhaupt bezahlen? Haben ja nicht mal genug Knete, um ihre Schwerverbrecher lebenslang unterzubringen. 🙁 Warum wurde Manning eigentlich nicht hingerichtet? Noch so ein Knoten.

  5. #5 griesl
    29. Oktober 2013

    die “medikation” von zum-tode-verurteilten mit den präparaten wär für die pharmafirmen ein super-gau.

    +”hey schau mal ich bekomm ein echt wirksames medikament”
    -“welches ?”
    +”xyz von zyx”
    -“ich hab gelesen, das es auch bei der todesstrafe eingesetzt wird”
    +”hoffentlich kennt mein arzt alternativen ?! am besten etwas von einer anderen firma. diese ist mir unheimlich.”

    selbst wenn der anteil noch so klein sein möge, in der diese substanzen zum töten eingesetzt werden, der pr schaden für pharmafirmen wär immens.

    https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/moeglicher-einsatz-bei-todesstrafe-fresenius-unterbrach-lieferung-von-narkosemittel-12613872.html
    https://www.sueddeutsche.de/wissen/todesstrafe-deutsche-firma-boykottiert-hinrichtungen-in-den-usa-1.1465838

    wenn selbst tochterfirmen, die ausserhalb der europäischen gerichtsbarkeit ansässig sind, diese präparate nicht mehr herstellen, liegt der grund nicht bei einem eu gesetz. ….

  6. #6 s.s.t.
    30. Oktober 2013

    Wo ist eigentlich das Problem?

    Thiopental lässt sich leicht herstellen und auch China bekommt man eh jeden §$%&. Selbst für Crystal brauchts eigentlich nur drei PET-Flaschen.

    Na ja, wohl wieder nur die pissologischen Wohlstandsbefindlichkeiten; bekanntlich kann man auch mit (Leitungs-)Wasser Leute umbringen.

  7. #7 Jürgen Schönstein
    30. Oktober 2013

    @s.s.t. #6

    Wo ist eigentlich das Problem?

    So einfach ist die Sache ja nicht. Erstens sind Medikamente patentrechtlich geschützt – nur weil man sie leicht herstellen kann, heißt das ja nicht, dass man sie leicht herstellen darf. Zweitens ist die Todesstrafe selbst in den USA ja extrem kontrovers (es gibt da eigentlich nur zwei polare Positionen, ein “sowohl als auch” funktioniert hier ja nicht, da man Leute eben nicht nur ein bisschen hinrichten kann); außerdem ist sie ein juristischer Hochseilakt, bei dem selbst triviale formale Aspekte pötzlich über Leben und Tod entscheiden können. Ein illegal beschafftes Medikament zu benutzen, würde definitiv die Legitimität des gesamten Prozesses aushebeln und verbietet sich also schon allein aus formalrechtlichen Gründen.

    Was das Ersäufen der Todeskandidaten angeht: Da sei das Verbot der “grausamen und unüblichen Strafen” (cruel and unusual punishment) vor! Mit dieser Vorschrift haben sich die Henkers-Freunde eigentlich selbst ein Bein gestellt, denn letzlich ist es immer grausam, jemandem das Leben zu nehmen. Doch bisher genügt es, wenn sich die Hinrichtenden im Glauben wiegen können, dass die Todeskandidatinnen und -Kandidaten “sanft” ins Jenseits befördert werden. Und dazu sind eben diese Betäubungsmittel da; ich kann schon verstehen, dass Hersteller kein Interesse daran haben, dass ihre Produkte für diese Heuchelei – mehr ist es ja nicht – herhalten müssen und ihr Markenimage dabei riskieren. Die paar Dosierungen, die sie für Hinrichtungszwecke zusätzlich verkaufen könnten, machen diesen Imageschaden bestimmt nicht wett. Aber wenn sie erst mal exportiert werden, dann gibt es keine Möglichkeit, diese – aus europäischer Sicht unzulässige – Verwendung zu verhindern. Also bleibt nur das Embargo.

    @Erfahrener Blödkopp #4
    Nur ganz nebenbei: Die Todesstrafe ist, pro Delinquentenkopf gerechnet, um ein Vielfaches teurer als die lebenslange Inhaftierung.

  8. #8 ilona
    31. Oktober 2013

    Dann sollen die halt ne co2 betäubung machen. Oder Alkohol hernehmen. Wobei… Ne, unter 21 und Alkohol ist ja nicht erlaubt.. Hm..

    Nein, ernsthaft. Das Gesetz der EU ist völlig in Ordnung. Garantiert nicht in Ordnung ist das Töten eines Menschen gegen dessen Willen mithilfe einer Substanz die zum Leiden mindern erfunden wurde..

  9. #9 s.s.t.
    31. Oktober 2013

    @Jürgen Schönstein

    Thiopental wurde bereits in den 30iger Jahren des letzten Jahrtausends hergestellt, irgendwelche Patente etc. gibt es wohl kaum noch.

    Ansonsten gibt es zahllose Alternativen, z.B.: “Wie Ärzte ihren Selbstmord gestalten”
    https://extranet.medical-tribune.de/volltext/PDF/2001/MT-Schweiz/CH08_2001/CH08S29.pdf

    Dito:
    Ich weiß nicht, was Ihnen Ihr freundlicher Taxifahrer empfiehlt, wir empfehlen Fentanyl-Pflaster. (Häufigste Drogi-Todesursache u.a. in Bayern und garantiert schmerzfrei; denn Fentanyl (und alle seine look-alikes) kann man auch spritzen und wohl auch einatmen, denn vermutlich wurde ein Derivat schon einmal bei einem Musical (“Nord-Ost”) mehr oder weniger erfolgreich verwendet.)

    Erfahrungsgemäß (USA, Dt.) funktioniert auch Ameisensäurenitril bei sachgerechter Anwendung hervorragend und final.

    @ilona

    Garantiert nicht in Ordnung ist das Töten eines Menschen gegen dessen Willen mithilfe einer Substanz die zum Leiden mindern erfunden wurde..

    Wäre es mit einer Substanz in Ordnung, die Leiden verstärken würde?
    ——

    Was hierbei stört ist die moralinsaure Haltung, die in der üblichen Inkonsequenz daher kommt. Keine echte Position vs Todesstrafe, die bekanntlich nicht nur in Teilen der USA Usus ist, sondern ausschließlich das übliche Herumgeeiere, nur damit man sagen kann, “Völker der Welt, schaut auf unsere reine Weste!!!!!!”

  10. #10 Basilius
    Nyaruratohotepu
    2. November 2013

    Danke für diese Klarstellung s.s.t.:

    Was hierbei stört ist die moralinsaure Haltung, die in der üblichen Inkonsequenz daher kommt. Keine echte Position vs Todesstrafe, die bekanntlich nicht nur in Teilen der USA Usus ist, sondern ausschließlich das übliche Herumgeeiere, nur damit man sagen kann, “Völker der Welt, schaut auf unsere reine Weste!

    Beim Lesen des Artikels habe ich tatsächlich nicht daran gedacht, daß die ganze Sache ja schon von Anfang an stinkt.
    Ich schließe mich Deiner Meinung an und würde mir wünschen, daß man von Seitens unserer Politiker schon klarere Worte der grundsätzlichen Ablehnung der Todesstrafe finden würde.
    Eine echte Freundschaft erkennt man schließlich daran, daß der andere es aushält wenn man ihm mal direkt sagt, was einem selber nicht so passt.
    ^_^

  11. #11 s.s.t.
    2. November 2013

    Ich bin kein Befürworter der Todesstrafe, obgleich ich ein ‘echtes’ lebenslänglich (inkl. Sicherungsverwahrung) für ‘grausamer’ halte.

    Aber sofern ein allgem. Konsens besteht, dass bestimmte Verbrechen mit dem Tode bestraft werden müssen/sollen, gibt es ausreichend Möglichkeiten diese Bestrafung hinlänglich ‘human’ zu vollziehen; der Arzt J.I. Guillotin war da nur der Anfang.

  12. #12 KRA
    26. November 2013

    Ein Problem menschlicher Denkstruktur: Es wird Moral “auf die Werkzeuge übertragen”. Diese Problematik bedarf ein für allemal einer Klärung. Ein Denkansatz: Wenn der Aufwand zur Herstellung des Werkzeugs zur “unmoralischen Handlung” so groß ist, dass vom Verbot der Verteilung desselben eine echte Prävention ausgeht (siehe z.B. Waffenhandel) dann ist dies geboten, im anderen Falle nicht (z.B. Natriumfluorid zur vermuteten Sarinherstellung). Trotzdem sind Geschäfte im Kausalitästzusammenhang mit Menschenrechtsverletzung ethisch verwerflich. – Und Todesstrafe ist Menschenrechtsverletzung.

  13. #13 Merowech
    27. November 2013

    Um auch mal meinen Senf zur Todesstrafe abzugeben:

    Kriminalistisch macht die Todesstrafe in den meisten Fällen KEINEN Sinn.

    Alle Straftaten im Affekt sind schon mal außen vor. Da wirkt die “Abschreckung” durch Todesstrafe nicht. Wer aus WOLLUST oder aus anderen niederen Gründen tötet der denkt dabei vor nicht nach “Mensch wieviel bekomm ich denn aufgebrummt wenn ich ihn oder sie töte”. Das räumlich und zeitlich eng befristete deliktische Handeln beschränkt sich auf einen kurzen Moment, auch Kurzschlussreaktion genannt. Oft bereuen solcheTäter ihre Tat im nachhinein, wenn ihnen bewusst wird was die da eigentlich getan haben.

    Auch sogenannte Verzweiflungstaten sind keine Taten die sich durch Aufbringen hoher kriminalistischer Energie oder Überwindung rechtstaatlicher Hürden kennzeichnet sondern ebenfalls Affekthandlungen sind.

    Triebgesteuerte Täter sind ebenfalls außen vor, denn sie agieren nicht aus Habgier oder aus Kosten/Nutzen-Denken heraus, sondern weil sie ein psychisch/physisches Problem haben und nicht anders können. Und diese Täter brauchen eher sogar HILFE als den TOD.

    Was in den meisten Fällen also bleibt ist der “Rachegedanke” der Gemeinschaft. Sprechen wir es doch so aus wie es ist. Und das darf NIEMALS Grundlage rechtsstaatlichen Handelns sein, da wir so den Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung verlassen.

  14. […] dadurch, dass ein bisher nicht etablierter Drogencocktail – unter anderem aufgrund von Nachschubproblemen mit den früher benutzten Substanzen – für die Hinrichtung verwendet wurde, und dass Locketts Anwälte vorab eigentlich eine […]