Die Frage in der Überschrift ist von mir – und sie kam mir zum ersten Mal schon, als ich den Beitrag Ein freundliches Ende der Geisteswissenschaften? von Hans Ulrich Gumbrecht, Professor für Literaturwissenschaft an der kalifornischen Stanford University, in den FAZ-Blogs Anfang Oktober gelesen habe. Vereinfacht ausgedrückt ging es darum, dass Gumbrecht – nicht unbegründet, dazu gleich mehr – befürchtet, die Geisteswissenschaften würden an den amerikanischen Colleges (die nicht direkt mit deutschen Universitäten zu vergleichen sind, auch dazu gleich noch ein paar Sätze) zu reinen Nebenfachangeboten verkümmern und den forschenden und lehrenden Geisteswissenschaftlern an diesen Hochschulen die “Rolle des kultivierten und allerseits angesehenen Pausenclowns” zugeteilt. In ihrer heutigen Ausgabe greift nun auch die New York Times dieses Thema auf: As Interest Fades in the Humanities, Colleges Worry.
Erst mal ein paar Fakten aus diesem Artikel, die Gumbrechts Sorgen untermauern können: Obwohl 45 Prozent des Standford-Lehrkörpers in geisteswissenschaftlichen Fächern arbeitet, wählen nur 15 Prozent der Studentinnen und Studenten ein geisteswissenschaftliches Studium. Das mag an einer Hightech-Institution wie Stanford nicht weiter überraschen, aber selbst solch ein Hort der “Hochkultur” wie die Harvard-Universität sah im Lauf des vergangenen Jahrzehnt die Einschreibungen für Geisteswissenschaften um 20 Prozent fallen. Und amerikaweit schrumpfte der Anteil der Studentinnen und Studenten mit geisteswisseschaftlichen Hauptfächern von sowieso schon bescheidenen 14 Prozent im Jahr 1970 auf nur noch runde sieben Prozent gegenwärtig. (So gesehen sind die 15 Prozent in Stanford eigentlich als unerwartet hoch zu bewerten.)
Und wie ich schon erwähnte: Colleges sind nicht mit unseren Universitäten vergleichbar; sie entsprechen viel eher unserer gymnasialen Oberstufe als einer echten Hochschule. Wer hier studiert, erhält zwar eine fachlich orientierte Ausbildung, muss selbst der engagierteste Ingenieurstudent, selbst die ambitionierteste Materialwissenschaftlerin etc. muss auch Fächer in Kunst, Literatur und sogar Sport belegen – und vorgegebene Leistungsniveaus erfüllen, um sich später für einen Abschluss zu qualifizieren.
Mit anderen Worten: Das Angebot ian Geisteswissenschaften gehört für ein echtes College zwingend ins Sortiment – aber das heißt halt nicht, dass es auch an jedem College als Schwerpunkt angestrebt wird. Um ein konkretes Beispel zu wählen: Meine Frau unterrichtet am Massachusetts Institute of Technology in der Theaterfakultät, und ihre Kurse erfreuen sich höchster Beliebtheit bei den Studierenden – aber niemand wird ernsthaft erwarten, dass Studenten ans MIT streben, um Schauspieler oder Theaterregisseur zu werden; dafür wären Institute wie Yale der die New York University vermutlich die besseren Lehrstätten. Wer ans MIT geht (und die Studienkosten von jährlich rund 60.000 Dollar auf sich nimmt), hat vermutlich viel lukrativere Ambitionen …
Und hier kommt eigentlich der Dreh- und Angelpunkt meiner eingänglichen Frage: Letztlich ist ein Studium immer eine Vorbereitung auf eiN Berufsleben – selbst der amerikanische College-Abschluss, der eigentlich nur als Vorbereitung auf das – sehr fachspezifische – Graduiertenstudium (typischer Weise ein Masters-Abschluss) konzipiert ist, gilt für die meisten Absolventinnen und Absolventen heute als Fahrkarte zum ersten Job – der nach einer Viertelmillion, die so eine Ausbildung nach vier Jahren verschlungen hat, auch dringend nötig sein dürfte. Und hier regelt die Nachfrage imA rbeitsmarkt letztlich, welches Angebot die Studenten aufgreifen – und mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer bieten hier definitiv die größeren Berufschancen.
Was nicht heißen soll, dass die Geisteswissenschaften – und mit ihnen die GeisteswissenschaftlerInnen – plötzlich verschwinden werden. Gebraucht werden sie in jedem Fall, und wenn es “nur” der Nebenfachausbildung dient. Denn Bildung ist, auch in den USA, ein weitaus universaleres Gut als nur die Ausbildung. Die Frage ist also gar nicht, ob wir Geisteswissenschaften brauchen (oder ob wir sie nun in Ehren bestatten müssten, wie Gumbrecht befürchtet), sondern nur, wie viele. Eine Frage, die ich hier gerne diskutieren würde…
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