Wer mal ein bisschen Zeit auf einem Schiff verbracht hat, konnte vielleicht selbst schon beobachten, dass zu schnell auslaufende Ankerketten ein gefährliches “Eigenleben” entwickeln können. Doch das ist noch gar nichts, im Vergleich zu dieser “sprunghaften” Leistung, die offenbar jede hinreichend lange Badenwannenstöpselkette vollbringen kann:

Das sieht erst mal wie ein Trick aus, aber obwohl ich es – mangels einer hinreichend langen Kette für einen Selbstversuch (und die Leute im Baumarkt würden mir was husten, wenn ich’s dort mal schnell ausprobieren wollte) – nicht selbst überprüfen kann, ist mir der Vergleich mit den Saughebereffekt plausibel genug. Aber warum schießt die Kette erst mal hoch, anstatt einfach über die Kante des Gefäßes auszulaufen? Hier der Versuch einer Erklärung:

Aha, Trägheit, vielleicht auch ein bisschen Fliehkraft – klingt ja auch plausibel. Ist es aber nicht, wie ich diesem aktuellen Artikel auf der Science-Website entnehmen kann: Demnach ist es nicht die Trägheit (also die Tatsache, dass die Kette einfach “nicht schnell genug die Kurve kriegt” und damit erst mal nach oben über die Kante hinaus schießt), die diesen “Kettenbrunnen” erzeugt, sondern dass der noch im Gefäß verbleibende Kettenrest diese der Fallrichtung entgegengesetzte Kraft ausübt. Das klingt erst mal … abstrus. Die ruhende Kette soll eine Kraft ausüben, mit der sie sich gegen die Schwerkraft erhebt?

So (oder so ähnlich)  steht’s jedenfalls im aktuellen Artikel, der dazu in den Proceedings of the Royal Society A erschienen ist und dessen Abstract ich hier einfach mal übernehme:

If a chain is initially at rest in a beaker at a height h1 above the ground, and the end of the chain is pulled over the rim of the beaker and down towards the ground and then released, the chain will spontaneously ‘flow’ out of the beaker under gravity. Furthermore, the beads do not simply drag over the edge of the beaker but form a fountain reaching a height h2 above it. We show that the formation of a fountain requires that the beads come into motion not only by being pulled upwards by the part of the chain immediately above the pile, but also by being pushed upwards by an anomalous reaction force from the pile of stationary chain. We propose possible origins for this force, argue that its magnitude will be proportional to the square of the chain velocity and predict and verify experimentally that h2h1.

Der Artikel ist übrigens frei zugänglich. Ich gestehe, dass ich als Nicht-Physiker mit den mathematischen Argumenten ziemlich überfordert bin. Und wenn dann, quasi als deus ex machina, eine neue Kraft R eingeführt wird, bleibe ich erst mal skeptisch. Es soll ja unter den ScienceBlogs-LeserInnen einige PhysikerInnen geben – könnten die mir und anderen LeserInnen vielleicht auf die Sprünge helfen?

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Kommentare (14)

  1. #1 rolak
    16. Januar 2014

    Falls sich noch jemand wundern sollte, was denn ein klassisches Logikpuzzle mit der Kette zu tun hat: Nicht #3, sondern #2 der playlist bringt den Versuch einer Erklärung.

  2. #2 Theres
    16. Januar 2014

    Gnigger, hab ichs vor dir angeschaut?
    Am besten ist es aber direkt auf der Tube – da klappt es auch mit dem Erklärvideo. Tja, er sagt ja auch, dass es nicht so richtig verstanden ist und … das hab ich auch nicht. Aber es hat mit der Geschwindigkeit der Kette zu tun, der runterfallenden, und je größer sie wird, desto größer muss auch der Bogen sein, wegen des Materials, desto höher die Kette also auch aufsteigen.
    Das sah man doch als er das Glas höher hielt auch. Mehr vielleicht nach ausreichend Nachtschlaf …

  3. #3 MartinB
    16. Januar 2014

    Ich habe es so verstanden, dass der Effekt dadurch kommt, dass die Kettenglieder selbst starr sind – dadurch entsteht eine Extra-Kraft, wenn ein horizontal liegendes Kettenglied nach oben gezogen wird, weil es auf den Behälter drückt (und der dann entsprechend zurückdrückt). Mit einem Seil sollte es wohl nicht klappen.

  4. #4 Earthshaker
    16. Januar 2014

    Ich habe es auch so wie MartinB verstanden. Die Schlüssel-Abbildung dazu ist Fig. 3a) , die zeigen soll, dass sich beim einseitigen Anheben eines starren Körpers (hier auf der rechten Seite) die andere Seite (also hier die linke) durch eine Rotationsbewegung nach unten bewegen würde. Das wird in der Realität aber durch die unterhalb dieses einen Kettenglieds liegenden Kettenteile bzw. den Gefäßboden verhindert. Die daraus resultierende nach oben gerichtete Kraft ist dann genau die ominöse Kraft R, die vorher postuliert wurde.
    Später (letzter Absatz Seite 5) wurde auch erwähnt, dass der Effekt in einer Computersimulation des Problems reproduziert werden konnte. Der Clou ist dabei, dass der Effekt verschwindet, wenn man in der Simulation die Wechselwirkung zwischen Kette und Gefäßboden ausschaltet – auf jeden Fall ein gutes Indiz für die Theorie.

  5. #5 Uwe
    https://plus.google.com/111456037224513330152/posts
    16. Januar 2014

    Das könnte man doch nachmessen, indem man die Gewichtskraft des Behälters während des Versuches auf eine Wage misst. Sie müsste nach dieser Theorie genau um R zunehmen… Dummerweise ist die Gewichtskraft aber die Summe aus F_g = g*m + R, und die Masse m des Behälters ändert sich sehr schnell. Schwierig zu messen…

  6. #6 sax
    16. Januar 2014

    Habe leider hier gerade keine Boxden und kann deshalb nicht beurteilen was in dem Video gesagt wird, aber es schein t hier her zu gehören:
    https://www.youtube.com/watch?v=-eEi7fO0_O0

    Das Paper guck ich mir heute Abend an, vielleicht kann man ja eine lustige Übungsaufgabe für die Mechanik draus basteln [;-)].

  7. #7 Jürgen Schönstein
    16. Januar 2014

    @MartinB # 3
    Ja, das scheint die Idee zu sein, die hinter der Erklärung im Royal-Society-Paper steckt. Wenn ich es aber richtig verstanden habe, dann geht es dabei um das Prinzip von Kraft und Gegenkraft – ebenso, wie die Wand eine Kraft auf meine Hand ausübt, wenn ich gegen sie drücke. Aber wäre dann die Wand der Ursprung der Kraft? Die Autoren sagen ja, der ruhende Teil der Kette im Gefäß sei die Quelle dieser “anormalen Reaktion” …

    Eine andere Frage ist, ob die Autoren wirklich von einem Kettenmodell ausgehen sollten. Denn anders als eine lose Gliederkette, die in der Tat praktisch jeden Winkel einnehmen kann, sind diese Kugelketten (die wir eben von Badewannen- und Waschbeckenstöpseln kennen) eher halbstarr: Sie lassen sich nur mit einem gewissen Mindestradius biegen. Und das haben sie, wie es mir scheint, in ihren Rechnungen gar nicht berücksichtigt.

    Man sollte mal ausprobieren, wie sich die Sache mit Schnüren, Kabeln und richtigen Gliederketten verhält. Hat jemand Lust darauf?

  8. #8 porzellan
    16. Januar 2014

    Eine normal Kette oder ein Seil “fließt” einfach aus dem Glas raus. Diese spezielle Kette lässt sich nicht um 90° knicken, daher entsteht am Beginn ein kleiner Bogen. Da der weiter ist, als die Kette sich knicken lässt, kann man wohl Zentrifugalkraft vermuten? Das das so hoch steigt ist komisch. Irgendwie scheint die fallende Kette sich rückwirkend gerade zu ziehen. (Ich glaube nicht, das man so einen Bogen bei einer normalen Kette irgendwie provozieren könnte, es müsste wohl sicher etwas mit dem Ursprung im Glas zu tun haben, ohne den gehts nicht)

  9. #9 threepoints...
    16. Januar 2014

    Im Video ist es recht gut zu sehen. Der Typ nimmt den Kettenanfang und Beschleunigt sie. Dann passiert folgendes:

    Die Kette fällt, aber langsamer als die fallende Kette die ruhenden Massen beschleunigt. Das erzeugt einen Stau, der den Bogen austreibt, der nur nach oben gehen kann (wegen dem Gefäßrand).
    Dass der Bogen dann stabil bleibt (relativ) liegt daran, dass sich die Massen im Kettenverbund weniger frei entfalten können, was eine recht stabile Flugbahn erzeugt.
    Die jeweils erstbeschleunigten Massen scheinen tatsächlich eine höhere Energie zu tragen, als eine ausgeschwungene fallende Kette. Diese Energie im Laufe des Fallens sich ausgleicht – in der Kettenverbindung harmonisiert.
    Ohne diesen Energieüberschuß die Kette direkt über den Rand ablaufen würde.
    Für die Bildung des Bogens ist eine Mindestbeschleunigung notwendig (Geschwindigkeit), damit die Energie ausreicht, um Gravitation zu überwinden und zudem noch die Energie der fallenden Kettenteile.

    Ausserdem komme ich nicht drum rum, in der Kettenbewegung eine Art Zentrifugalkraft zu erkennen. Das geht daher, weil ein solches Phänomen nicht einen Vollkreis beschreiben muß, um wirksam zu sein. Ausserdem der Vollkreis in einer Spiralbahn vollzogen wird, die im Video bis in den fallenden Kettenteil erkennbar ist.

  10. #10 threepoints...
    16. Januar 2014

    Ne, die ruhende Kette bringt nur soviel Masse in das System ein, wie sie unmittelbar vor dem Berreich der fortschreitenden Beschleunigung ruhend innehat.
    Viel ist das gegenüber der Energie der fallenden Kette nicht.
    Trägheit spielt eine Rolle – innerhalb der Zentrifugalkräfte.

  11. #11 Alderamin
    16. Januar 2014

    @Jürgen

    Wenn ich es aber richtig verstanden habe, dann geht es dabei um das Prinzip von Kraft und Gegenkraft – ebenso, wie die Wand eine Kraft auf meine Hand ausübt, wenn ich gegen sie drücke. Aber wäre dann die Wand der Ursprung der Kraft?

    Die schreiben, dass sich der vom Boden lösende Teil der Kette wie ein starrer, auf dem Boden liegender Stab verhält, den man an einem Ende schnell hochzieht. Dadurch, dass man ihn nicht im Schwerpunkt greift, versetzt man ihn in Rotation, so dass das untere Ende gegen den Boden drückt. Das hebe die Kette dann an. Die Gegenkraft wird am Ende natürlich von der Person aufgebracht, die den Becher hält. Die Rolle kann aber auch von einem Tisch übernommen werden. Der Impuls muss letztlich von der ziehenden Kette aufgebracht werden und wird am Boden reflektiert. Das erklärt das Abheben der Kette mit Schwung, aber nicht den Bogen.

    Und da muss ich threepoints Recht geben. Wenn die Kette die Richtung ändern soll, dann wirken natürlich Beschleunigungskräfte. Die Zentrifugalkraft drückt die massive Kette nach außen, während die einzelnen Glieder ihre 180°-Wendung machen, und so kommt der Bogen zustande. Das ist eigentlich eine missglückte Wurfparabel (weil die Kettenglieder zusammen hängen). Wenn ein Satellit die Erde umkreist, halten sich Gravitation und Zentrifugalkraft die Waage, hier sind es das Kettengewicht und die Zentrifugalkraft.

    Mit einem Seil klappt das vermutlich nicht, weil es am Boden zu elastisch ist und der Zug des Seils das Seil nicht genug nach oben beschleunigt, sondern gleich zur Seite weg. Aber wenn der Becher tief ist und die Reibung klein, könnte es vielleicht auch mit einem Seil klappen, wenn dieses nur genug Fahrt aufnehmen kann. Denn ohne Schwung reicht es nicht, den Bogen auszubilden.

  12. #12 threepoints...
    17. Januar 2014

    Mit Gliederketten wird das nicht funktionieren, weil die in den Gliedern zu viel gestaucht / ihre Gliederlänge verändern können. Es kann keinen “Stau” geben, der den Bogen austreibt.

    Mit Kabel und Seil kann das theoretisch funktionieren. Wohl aber nicht so ausgeprägt.
    Bei dieser Stöpselkette ist die einzigartige Eigenschaft, dass sie zu jeder Kuglmasse genau eine gewisse Stauchstrecke aufweist. Das Verhältnis zueinander scheint ideale Bedingungen zu liefern, damit sich Massen in der Kette unterschiedlich hoch beschleunigen können, die sich gegenseitig erst aus Fallrichtung ziehen und dann in Fallrichtung stoßen. Die Massen werden nicht gleichzeitig erstbeschleunigt, sondern mit einer Verzögerung, die zu einer abrupten Lageveränderung (Übergang von ruhend in bewegt) führt, die eine höhere Geschwindigkeit in die Masse einbringt, als es das schon bewegte Gesamtsystem gerade im Schnitt aufweisst. Dieses fallende Gesamtsystem verliert bei jeder neuen Erstbeschleunigung einer Masse ein Teil Energie und bekommt ein Teil zurück, der dann zu dem Bogen führt, weil die Geschwindigkeit der erstbeschleunigten Masse höher ist, als das Gesamtsystem und aber gegen die Masse des Systems nicht ankommt und die Energie irgenwo hin muß.

  13. #13 threepoints...
    23. Februar 2014

    Was sagt der Typ im ersten Video mit erstaunten Gesichtsausdruck beim Anblick des Bogens?

    “wtf”

    boah,….

  14. #14 threepoints...
    25. Februar 2014

    https://www.youtube.com/watch?v=-eEi7fO0_O0

    Im Video erklären sie es an der Tafel.
    Ausserdem gehts auch mit Spagetti. Der Schluß, den sie ziehen, ist aber m.E. trotzdem nicht ganz richtig. Ich denke nicht, dass eine Abstoßungkraft aus einer Hebelwirkung den Bogen ausbildet.
    Wenn sie am Ende als Beispiel eine Kette aus Neilon und Gewichte mit größerm Abstand nehmen, bei der der Bogen nicht ausgebildet wird, liegt es wenigstens auch daran, dass diese kette die notwendige Geschwindigkeit nicht erreicht, weil sie immer am Becherrand reibt und die Abstände zwischen den Gewichten zu groß sind, wodurch die Kette zu flexibel wird und zu viel gestaucht weden kann. Das hat die Folge, dass erstbeschleunigte Teile der Kette die schon beschleunigten Teile nicht mehr schieben kann, damit sich der Bogen ausbildet.