Über Jahre hinweg hatte Dr. Nikita Levy, seit 1988 Gynäkologe für das Johns-Hopkins-Kliniksystem in Baltimore, seine Patientinnen während der Unterleibsuntersuchungen heimlich gefilmt. Im Februar 2013 flog die Sache auf, weil eine Kollegin bemerkt hatte, dass der seltsame Füller, den Levy um den Hals trug, gar kein Füller war, sondern eine kleine Kamera. Kurz nach seiner fristlosen Entlassung beging der Frauenarzt Selbstmord; auf seinem privaten Computer fanden die Ermittler rund 1200 solcher “Voyeur”-Videos, daneben auch hunderte von Fotografien. So weit, so ekelhaft.
Nun hat sich das Krankenhaus darauf verständigt, den mehr als 7000 betroffenen Patientinnen Levys insgesamt 190 Millionen Dollar an Entschädigung zu zahlen. Dass die Patientinnen geschädigt wurden, schwer sogar, steht außer Frage: Viele seien in ihrem Vertrauen zu Ärzten als Folge von Levys Verhalten so gestört, dass sie jegliche medizinische Betreuung, sowohl für sich selbst als auch für ihre Kinder, nicht mehr ertragen können und daher effektiv aus dem Gesundheitssystem ausgeschieden sind. Das klingt durchaus plausibel.
Und doch will ich hier mal eine störende Frage in den Raum stellen: Hat der Arzt die Frauen mehr missbraucht, oder das Rechtssystem? Denn der Haken ist, dass Levy diese Videos ganz allein für sich behalten hat. Selbst im Zeitalter von YouTube und Videosharing (auch für allerlei Voyeur- und Amateurpornos, natürlich) wollte er diese Aufnahmen mit niemandem teilen. Und die Frauen selbst hätte von der Sache nie erfahren, wenn die Ermittlungen nicht so publik gewesen wären. das mag eiem im ersten Moment unvermeidlich vorkommen; in einem Rechtsstaat sollte es keine geheimen Strafermittlungen geben, das ist sicher nachvollziehbar.
Und dennoch: Die Traumatisierung geschah ja nicht durch die “Behandlung” an sich, da ja die Patientinnen zu diesem Zeitpunkt völlig ahnungslos waren. Erst die öffentliche Ermittlung zwang die Opfer, sich mit dem Geschehen zu identifizieren und auseinanderzusetzen. Anders ausgedrückt: Erst das Wissen hat überhaupt dazu geführt, dass sie Schaden genommen haben. Ich weiß, dass wir hier – ist in einem Wissensblog ja nahezu selbstverständlich – das Wissen immer höher schätzen als die Ignoranz. Und letztlich kann man nur mit dem verantwortungsvoll umgehen, was man weiß.
Aber im vorliegenden Fall ist es doch nicht ganz so einfach. Allein schon deshalb, weil die Entschädigung ja nicht die betroffenen Frauen auch nur im Ansatz “entschädigt” (will heißen, nicht dazu geeignet ist, ihnen bei der Verarbeitung des Erlebten zu helfen). Sicher, 190 Millionen Dollar klingt nach viel Geld; rein rechnerisch erhielte jede Frau also etwa 27.000 Dollar. Doch erstens müssen sie in Einzelgesprächen (“fairness hearings” genannt) mit dem Richter und durch psychologisch-psychiatrische Gutachten nachweisen, wie sehr sie durch Levys Verhalten geschädigt wurden, was das psychische Trauma eher verschlimmern wird – die Summe richtet sich dann danach, wie schwer ihre Psyche nach Expertenansicht dabei beschädigt wurde. Vor allem aber wird ein nicht unerheblicher Teil der Summe in die Taschen einiger weniger Anwälte fließen, die diesen Vergleich durchgeboxt haben. Sicher, auch Anwälte wollen bezahlt werden, und ohne Anwälte funktioniert kein Rechtssystem. Und doch bleibt bei mir der Eindruck hängen, dass die Frauen letztlich zwei- wenn nicht dreimal zum Opfer gemacht werden: vom Arzt, von den ermittelnden Behörden und Gerichten, und dann noch einmal von den AnwältInnen. Sind es wirklich ihre Rechte, die hier be- und verhandelt wurden? Mich würde interessieren, was Ihr als Leserinnen und Leser dazu meint.
Kommentare (14)