An dem Begriff “Evidence-based sentencing”, der in diesem Beitrag der Juraprofessorin Sonja Starr für die Meinungsseite der New York Times eine zentrale Rolle spielt, hätte ich beinahe achtlos vorbei geblättert – klar doch, dass Gerichtsurteile auf Beweisen beruhen sollten. Doch dann fiel mir auf, dass es hier um etwas anderes geht: Immer mehr US-Bundesstaaten gehen dazu über, das Strafmaß für einen Verurteilten nicht alleine nach der Schwere der Tat und den Vorstrafen des Delinquenten zu bemessen, sondern auch nach – weitgehend soziodemographisch bestimmten und auf aggregierter Datenanalyse beruhenden – speziellen Risikofaktoren, die eine Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit berücksichtigen soll.
Das klingt zwar im ersten Moment sogar ganz gerecht, vor allem, wenn man weiß, dass diese Faktoren zu einer Bemessung der Strafmilderung heran gezogen werden. Es geht also nicht darum, den Verurteilten mit schlechter Prognose eine zusätzliche Strafdauer aufzuerlegen, sondern jenen mit guter Prognose eine Bewährungsstrafe oder ein verkürztes Strafmaß zu gewähren. Der Haken, den Sonja Starr an der Sache findet, ist aber der, dass diese “Risikofaktoren” primär soziodemographische Gruppen beschreiben und in hohem Maß mit dem Einkommen und/oder Vermögen dieser Gruppen korreliert. Es ist letztlich nichts anderes als das bereits als rechtlich unstatthaft erkannte “Profiling”, in dem Angehörige bestimmter Gruppen – ethnisch, geographisch, altersmäßig etc. – strenger kontrolliert und schneller auf Verdacht festgenommen werden.
Was mich dabei beschäftigt ist die Frage, ob solch eine Gruppenanalyse, die ja in sich selbst durchaus legitim ist, wirklich “Evidenz” für die individuelle Prognose ist. Das ist letztlich das gleiche Problem, das uns auch bei der Vorsorgeuntersuchung immer wieder beschäftigt hat …
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