Zweimal wöchentlich führt mich mein Lehrplan hier am Massachusetts Institute of Technology in einen Seminarraum, der gleich um die Ecke vom Research Laboratory of Electronics liegt. Und jedes Mal war mir im Kreis der Studentinnen und Studenten, die hier auf den Beginn einer Vorlesung im benachbarten Hörsaal warten, eine kleine Familie aufgefallen, die selbst im diversen Umfeld des MIT ungewöhnlich scheint: Er mit Vollbart, sie im Kopftuch, beide mit dem Habitus, der gemeinhin auf eine orthodoxe Religionsgemeinschaft assoziiert wird; zumeist sitzt sie, mit einem Säugling im Arm oder an der Brust, zu Füßen ihres Mannes – wie ich zumindest aus der intim anmutenden Familienszene entnehme – und scheint sehr auf das Kind konzentriert. Klar, was die Situation ist, oder? Bis ich in dieser Woche die Konversation mit einer Kommilitonin – es ging um irgend etwas Phsyikalisch-Elektronisches – überhörte: Sie ist die Studentin, und er kümmert sich während sie in der Klasse sitzt, um das Kind. Und ich habe – mal wieder – lernen und einsehen müssen, wie leicht man sich in seinen nur scheinbar plausiblen Erwartungen und Vorurteilen verlaufen kann…

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Kommentare (9)

  1. #1 rolak
    17. Oktober 2014

    Meine bescheidene Hypothese ist ja schon seit längerem, daß wir einmal eingestanzte Vorurteile nie wieder loswerden, nur besser damit umzugehen lernen können – d.h. deutlich häufiger rechtzeitig mit der Ratio bremsen. So ähnlich wie bei Phobien.

    btw: wo ich grad drüber nachdenke: Die beiden sind sich ja eh ein wenig ähnlich, eine wie auch immer erlernte, unbegründete Wertung (Urteil | Angst).

  2. #2 LasurCyan
    18. Oktober 2014

    Sehr schöner Artikel! Das ist für mich absolut nachvollziehbar, da ich hin und wieder auch gern über liebgewonnene Muster stolpere. Und sicher noch öfter, als mir das bewusst wird.

    mit der Ratio bremsen. So ähnlich wie bei Phobien.

    Nuja, rolak. Meines Wissens und meiner Erfahrung nach lässt sich bei einer Phobie mit Ratio nicht gegensteuern. Beispielsweise ‘Flugangst’ kriegst du nicht mit ner Unfallstatistik geheilt. Weil eine Phobie zwingend ‘irrational’ ist.

  3. #3 rolak
    18. Oktober 2014

    ‘Flugangst’ kriegst du nicht mit ner Unfallstatistik geheilt

    Zu schade für die Betroffenen, ne, LasurCyan? Gemeint war allerdings eher Prozeß & Funktion zB einer Verhaltenstherapie, deren Ziel es ist, wie-ki es formuliert, “dem Patienten nach Einsicht in Ursachen und Entstehungsgeschichte seiner Probleme Methoden an die Hand zu geben, die ihn ermächtigen sollen, seine psychischen Beschwerden zu überwinden.”
    Oder volksmundig: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.

  4. #4 LasurCyan
    18. Oktober 2014

    Verhaltenstherapie

    ‘Konditionieren’ geht natürlich immer, rolak. Aber ich muss leider darauf bestehen, dass eine Phobie nicht zu überwinden ist. Lediglich Symtome lassen sich abschwächen, über ‘Konditionierung’ (=Konfrontation), oder Medikamente.

    Bei meiner ReisePhobie genügt allerdings auch einfach das ‘NichtReisen’. Das ist echt nunmal ein Luxusproblem.

  5. #5 rolak
    18. Oktober 2014

    nicht zu überwinden

    Na das war doch der Ausgangspunkt, LasurCyan.

    Luxusproblem

    Ok, doch um alles abzudecken, müßtest Du die “ab hier Luxus”-Latte ziemlich tief auflegen. Insofern: Beileid!

  6. #6 demolog
    19. Oktober 2014

    Schöne Anekdote. Hier noch eine:

  7. #7 demolog
    19. Oktober 2014

    @ #4 LasurCyan
    18. Oktober 2014

    Extinktionslernen soll ja funktionieren. Wohl nicht ohne Kopfschmerzen. Denn es wird wohl auf Zellebene therapiert – was zu einer zerstörerischen Veränderung führt. Darüber gibt der Artikel aber keine Auskunft.

    https://dasgehirn.info/dasGehirn/handeln/verlernen/die-angst-steckt-zwischen-den-nervenzellen-wie-verlernen-auf-zellulaerer-ebene-funktioniert-9793/

    Und nur nebenbei: Scientologie-Therapie (Auditioning) hat dem Vernehmen öffentlicher Äußerungen nach auch Kopfschmerzen zur Folge.

  8. #8 demolog
    19. Oktober 2014

    zu #7

    Ach und THC sei ja natürlich kontraproduktiv.

    Zitat:
    “Zumal Joints ihrerseits auch Panikattacken auslösen können und somit nur neue Angst.”

    Dies Argument ist scheinheilig. Verbirgt es doch die dahinter liegenden Bedingungen. Etwa Pestizid-überdosen wegen falscher oder überhaupt dessen Anwendung) oder andere chemische Substanzen aus Dünge- und/oder Pflanzeschutzmittel, die neurologisch wirksam sind. Also nicht ursprünglich aus der Pflanze stammenden Wirkstoffe. Auch durch Genmanipulierung erzeugte “Evolution” solcher Pflanzen könnten Ursache sein. Sozusagen ist das dann eine trojanische Strategie, um sein Unbehagen und seine Missgunst gegen die Kiffer “produktiv” zu nutzen. Gerne auch mit der Argumentation “Volkswirtschaft” und anderen irrsinnigen Visionen. Es kann dem Kiffer nichts schlimmeres passieren, als dass er wegen Panikzuständen in der Psychiatrie landet. Jeder Knast und jede Brücke (unter der der möglicherweie mal landet) ist die bessere Folge von durch übermäßigen Cannabismissbrauch begünstigter “Desintegration” und/oder “Antriebs- und Motivationslosigkeit” – und die daraufhin tendenzieller eintretenen Probleme mit der wirklichen Wahngesellschaft. Die nämlich, die maximal “getrieben” ist und nicht merkt, dass sie es ist. Also die sogenannten “Normalos” – die klinisch unauffälligen.

  9. #9 miesepeter3
    20. Oktober 2014

    @Jürgen Schönstein

    Vorurteile sind weiter nichts als standartisierte Verhaltensnormen, durch die wir in die Lage versetzt werden, unbekannte Situationen schneller einzuschätzen, ohne lange nachdenken zu müssen. Unser Gehirn greift einfach und schnell auf bereits kennengelernte ähnliche Erlebnisse zurück und kann so möglichst ohne Zeitverlust eine Situation vergleichen und so eventuell entschärfen, frei nach dem Motto “Gefahr erkannt, Gefahr gebannt”. Man kann diese unterbewußten Vergleiche auch nutzen, indem man das Gehirn ” erlernte” Vergleiche anstellen läßt. Also anerzogene oder erlernete Bewertungen von Situationen. Hier liegt die größte Gefahr, dass man einem Vorurteil erliegt, weil man nicht auf eigene Erfahrungen zurückgreift, sondern auf Werturteile anderer. Die müssen nicht zwangsläufig richtig oder nützlich sein.
    Nun ist man allerdings den Vorurteilen nicht zwangsweise ausgeliefert. Man kann sie jederzeit durch eigenes Denken berichtigen. Die Evolution hat da durchaus Möglichkeiten gelassen. Hat ja sogar bei Dir geklappt.