Es geht hier um die sechs italienischen Erdbebenexperten, die für ihre – nach Ansicht der Behörden grob fahrlässige – Nicht-Vorhersage des Erdbebens von l’Aquila zu jeweils sechs Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt worden waren. Ob es wirklich ein kompletter Freispruch ist, kann ich auf der Basis dieses nature-Artikels nicht ganz klar einschätzen; dort ist die Rede davon, dass ein Berufungsgericht das Totschlags-Urteil gegen die sechs Geowissenschaftler kassiert habe, sein Entscheidungsbegründung eventuell aber erst in einigen Monaten bekanntgeben wird. Auf der Basis dessen, was in nature steht, wäre nicht auszuschließen, dass diese Berufungsrichter trotzdem auch wieder einen Schuldspruch fällen – eventuell aber wegen eines deutlich geringeren Vergehens, und eventuell ohne Haftstrafe etc. Trotzdem ist es ein Signal – wenn auch eines, das immer noch missverständlich sein kann. Denn der Beamte Bernardo De Bernadinis ist auch weiterhin schuldig befunden und mit einer Haftstrafe von zwei Jahren belegt worden – er war es, der die abwägenden Einschätzungen der Wissenschaftler in die als abwiegelnde Entwarnung empfundene und letztlich fatale Einschätzung umformulierte, dass dieses Erdbeben, das sich mit einer ganzen Reihe von Vorbeben angekündigt hatte (und letztlich, als es dann kam, mehr als 300 Menschenleben forderte), aufgrund all der Vorbeben nunmehr sehr unwahrscheinlich geworden sei.

Bleibt also abzuwarten, wie genau diese Berufungsurteile begründet werden – und ob sie dadurch das Problem beseitigen, das seither auf Italiens (und möglicherweise auch anderen nationalen) Erdbebenforschern lastet: dass eine wissenschaftlich korrekte Risikoeinschätzung zu einer absoluten Prognose uminterpretiert wird (“kommt/kommt nicht”) – und die Wissenschaftler dann dafür haftbar gemacht werden.

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Kommentare (9)

  1. #1 Earonn
    15. November 2014

    Auf jeden Fall zeigt dieser Vorgang, wie unglaublich notwendig naturwissenschaftliche Bildung in Schulen ist, so dass jeder zumindest etwas über die wissenschaftlichen Methoden – und ihre Grenzen! – weiss.
    Dann hätte sowohl Herr De Bernadinis als auch der Richter anders entschieden.

    Wieso wurden eigentlich nicht die örtlichen Hellseher angeklagt, die haben schliesslich genauso versagt?

  2. #2 Bullet
    15. November 2014

    @Earonn: oder die Astrologen (sofern du die nicht unter “Hellseher” einordnest)?
    Name auf Verlangen entfernt hat ja behauptet, man könne Erdbeben anhand von “Sternkonstellationen” vorhersagen (im konkreten Fall gings damals um Haiti).

  3. #3 Woolthing
    Hamburg
    15. November 2014

    Ich will die italienische Justiz hier nicht übermäßig in Schutz nehmen. Aber nach meiner Erinnerung wurden die Wissenschaftler nicht wegen der “Nicht-Vorhersage des Erdbebens” (Zitat Schönstein) verurteilt, sondern weil sie auf einer Pressekonferenz Äußerungen getätitgt haben, die auf eine Entwarnung hinausliefen. Dies wog u.a. deshalb so schwer, weil das schriftliche Gutachten der Wissenschaftler für die Regierung erheblich differenzierter war und durchaus ein gewisses Erdbebenrisiko vorhersagte. Das Gericht hat die Wissenschaftler daher nicht für die Begrenztheit ihrer Vorhersagefähigkeit bestraft, sondern für die (große) Differenz zwischen ihrer wissenschaftlichen Einschätzung und ihrer verharmlosenden öffentlichen Äußerungen. Insofern kann man dem Gericht vermutlich übermäßige Strenge vorwerfen (ein deutsches Gericht hätte wohl auf Freispruch geurteilt), aber nicht ungebildete Dummheit.

  4. #4 Jürgen Schönstein
    15. November 2014

    @Woolthing #3
    Das hatte ich in meinem verlinkten Originalbeitrag ja auch genauso aufgedröselt, und das ist sicher auch der Grund, warum De Bernardis in der Berufung nicht freigesprochen, sondern nur zu einer reduzierten Strafe verurteilt wurde. Aber die Seismologen selbst hatte ja nie eine Entwarnung gegeben, sondern immer nur eine Risikoeinschätzung abgegeben. Trotzdem wurden sie im ersten Verfahren wegen Totschlags verurteilt.

  5. #5 Realistischer
    15. November 2014

    Man muss unterscheiden zwischen dem wissenschaftlichen Teil und dem politischen. Letzterer betrifft die Entscheidung, ob eine Erdbebenwarnung ausgesprochen bzw. eine Evakuierung angeordnet wird oder nicht – und das ist tatsächlich eine Ja/Nein-Entscheidungsfrage. Soweit ich die in den Medien aufgebrachten Vorwürfe verstanden habe, ging es dabei nur um den politischen Teil und nicht um den wissenschaftlichen – die Wissenschaftler kümmert das aber sichtlich garnicht…

  6. #6 Jürgen Schönstein
    15. November 2014

    @Realistischer

    die Wissenschaftler kümmert das aber sichtlich garnicht…

    Diese Bemerkung verstehe ich jetzt überhaupt nicht. Nochmal zur Klarheit: Die Expertenkommission hatte eine Risikoeinschätzung gemacht, die eine geringe Wahrscheinlichkeit für ein schweres Beben fand. Die Entscheidung über eine Evakuierungsempfehlung oder einen -befehl wurde ja nicht von ihnen gefällt. Trotzdem wurden sie in erster Instanz des Totschlags für schuldig befunden. Wer ist hier wegen was “unbekümmert”?

  7. #7 Christoph Moder
    15. November 2014

    @Earonn “Auf jeden Fall zeigt dieser Vorgang, wie unglaublich notwendig naturwissenschaftliche Bildung in Schulen ist, so dass jeder zumindest etwas über die wissenschaftlichen Methoden – und ihre Grenzen! – weiss.”

    Nein … IMHO zeigt dieser Fall vor allem, wie wichtig es für Wissenschaftler manchmal ist, gegenüber Entscheidungsträgern klare Aussagen treffen zu können. Selbst wenn diese eine grundlegende wissenschaftliche Bildung haben – wenn diese die Experten fragen, muss eine klare Antwort kommen, und nicht etwas, das missverstanden werden kann.

    Damit will ich niemandem die Schuld zuweisen, sondern nur sagen, was wir alle daraus lernen können. Und: Fehler wurden ja vor allem viel früher gemacht; Korruption hat dafür gesorgt, dass man in einem Gebiet mit bekannter latenter Erdbebengefahr eine erdbebensichere Bauweise unterlassen hat.

  8. #8 Adent
    16. November 2014

    DAs ist ein bischen so wie in der grünen Gentechnik-Debatte. Kein Wissenschaftler kann 100%ig jedes Risiko ausschliessen (das geht ja in keiner Wissenschaft), von der Politik und oftmals von der Öffentlichkeit wird dies aber gefordert. In Bezug auf die Erdbebenforscher heißt das, man hätte in jedem Fall evakuieren müssen, weil das Risiko eines schweren Erdbebens nicht null war. Wenn man das so handhabt, dann braucht man aber die Erdbebenforschung gar nicht mehr fragen, dann müßte man theoretisch jederzeit überall evakuieren, weil auch zum Beispiel in Hamburg das Risiko eines Erdbebens nicht null ist.

  9. #9 Realistischer
    16. November 2014

    @Jürgen Schönstein
    Ich habe deren Gutachten oder was immer die Experten da erstellt haben nicht gelesen, ich kenne nur die Vorwürfe die man an sie stellt: dass sie eben *nicht* nach wissenschaftlichen Kriterien zu ihrem Befund gekommen wären sondern sich von politischen Beschwichtigungswünschen hätten leiten lassen. Falls dem so war, braucht sie kein Wissenschaftler in Schutz nehmen, und es braucht sich auch keiner zu fürchten der sich nicht von politischem Druck korrumpieren lässt.