Alles, aber auch scheinbar wirklich alles in einem Operationssaal ist darauf ausgerichtet, Infektionen jedweder Art zu vermeiden. Dass also ein Hirnchirurg – und zwar nicht irgend ein Quacksalber oder Stümper, sondern einer der angesehensten Mitglieder dieser elitären Zunft – die frisch operierten Wunden absichtlich mit Darmbakterien infiziert, un die betroffenen Patientinnen und Patienten dazu sogar ausdrücklich ihre Zustimmung gegeben haben, klingt erst mal absurd und grotesk. Doch die Geschichte über Bacteria on the Brain, die in der (noch) aktuellen Ausgabe des Magazins The New Yorker zu lesen ist (was ich empfehle, zeigt uns, dass die Grenzen zwischen Forschung und heilerischer Intuition – die wir typischer Weise als Voodoo-Medizn kennen – manchmal nicht so klar sind, wie wir uns das wünschen würden. Der Fall des Chirurgen Paul Muizelaar ist zwar nicht neu, aber die Fragen, die dabei aufgeworfen werden, bleiben natürlich immer aktuell.
Der Kern der Geschichte ist schnell erzählt: Eine Legende unter Hirnchirurgen besagt, dass scheinbar unheilbare Tumore wie Glioblastome durch Infektionen mit Darmbakterien wie Enterobacter zerstört werden können (der mögliche Mechanismus wäre, dass diese bakterielle Infektion den Tumor für das Immunsystem sichtbarer macht). Muizelaar und sein Kollege Rudolph Schrot, damals beide an der University of California in Davis beschäftigt, hatten daraus eine Art ad-hoc-Terapie entwickelt, die ausschließlich auf Anekdoten und Spekulationen beruhte, ohne jemals auch nur in irgend einer Form, zum Beispiel in Tierversuchen, getestet worden zu sein. Wer den Fall genauer nachlesen will, kann hier bei Respectful Insolence reinschauen.
Warum also den New-Yorker-Artikel lesen? Weil er sich erst ml so liest, als ob Muizelaar und Schrot die Helden seien, die missverstandenen Pioniere, die sich gegen die Bürokratie durchsetzen und, ihrer Intuition vertrauend, Wunder für todkranke Patienten vollbringen. Aber vor allem lesen wir hier, dass sie in dieser Selbstauffassung nicht alleine da stehen – der New Yorker zitiert zum Beispiel den Neurochirurgen Harold Young, der selbst eine Patientin behandelt hatte, die durch eine – unbeabsichtigte – Infektion ihren scheinbar terminalen Hirntumor um mehr als in Jahrzehnt überlebt hatte. Young, der die Patientin an Muizelaar (damals in der gleichen Uniklinik in Richmond, Virginia, tätig wie Young) überwiesen hatte, war sicher, dass die Methode wirkt, egal wie: “Ich bin da pragmatisch”, erklärt er dem New Yorker, “mich interessiert nur, was hilft”. Mit anderen Worten: Wer heilt, hat recht. Und das ist und bleibt ein Trugschluss – nicht nur, weil die erhoffte Heilung in den beschriebenen drei Fällen letztlich ausblieb, wie wir dann in der zweiten Hälfte der New-Yorker-Story lernen: Keine(r) der drei Patient/innen, die Muizelaar behandelt hatte, wurde geheilt; nur eine Patientin lebte noch einige Monate lang nach der Behandlung, und die Tumore schrumpften tatsächlich – aber von Heilung konnte dennoch keine Rede sein, und die Patientin starb schließlich an den Folgen der Infektion.
Die Frage, die mich beschäftigt, ist nicht nur – wie es vordergründig scheint – ob es in einem Fall, der “austherapiert” ist und sonst keine Hoffnung mehr besteht, letztlich alle Mittel, selbst die absurdesten, akzeptabel sind. Dass Patienten hier zustimmen, ist nicht verwunderlich; vermutlich würde ich für mich in so einem Fall nicht anders entscheiden. Aber sind Ärztinnen und Ärzte, die sicher ganz ehrlich nur helfen wollen, nur ihren eigenen Patientinnen gegenüber verantwortlich? Oder müssen sie auch bedenken, welche falschen Hoffnungen sie damit bei anderen Menschen wecken und damit eventuell nur den Weg für “Wundermittel” aller Art, und damit auch für Scharlatane und selbsterklärte Wunderheiler frei machen?
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