Toleranz gilt als oberste Tugend für alle, die sich zu den aufgeklärt Denkenden zählen. Ich zähle mich bereitwillig dazu, soweit es soziale Chancengleichheit und Anti-Diskriminierung aller Art betrifft. Ich erlebe eine geradezu physisch spürbare Abwehrreaktion, wenn ich die intoleranten, misogynen, xeno-, homo- und sonstwie -phoben Sprüche von Politikern (oder sollte ich schreiben “Politikerinnen und Politikern”) der neo-rechten Ausrichtung lesen oder hören muss. Und tappe damit offenbar auch in jene Falle, die der Kolumnist Nicolas Kristof in der New York Times selbstbezichtigend als “liberale Intoleranz” beschrieben hat:
We progressives believe in diversity, and we want women, blacks, Latinos, gays and Muslims at the table — er, so long as they aren’t conservatives. Zu deutsch: Wir Progressiven glauben an Vielfalt, und wir wollen Frauen, Schwarze, Latinos, Schwule und Muslims an den Tisch holen – ahem, so lange sie keine Konservativen sind.
Und er belegt das sogar mit Zahlen: So identifizierten sich zum Beispiel in den Geisteswissenschaften an amerikanischen Hochschulen nur zwischen sechs und elf Prozent aller Professorinnen und Professoren als Republikaner, bei den Sozialwissenschaften sogar nur sieben bis neun Prozent. Gleichzeitig gäben etwa 18 Prozent aller Sozialwissenschaftler an, Marxisten zu sein, es sei daher in manchen Fachrichtungen leichter, einen Marxisten zu finden als einen Republikaner. Doch mehr noch: In verschiedenen Studien habe sich gezeigt, dass die eher links denkenden Akademiker, bei all ihrer selbsterklärten Liebe zur Toleranz, ziemlich intolerant reagieren, wenn es um Stellenbesetzungen oder Mittelvergabe an rechts denkenden und wählende Kolleginnen und Kollegen geht. Und folgert daraus, dass es uns scheinbar Toleranten gut täte, Vielfalt auch auf die Meinungen von Rechts auszudehnen.
So weit, so amerikanisch. Denn um diese Trends richtig interpretieren zu können, muss sich erinnern, wie sich die politischen Spektralfarben in den USA verschieben: Bernie Sanders, der sich selbst gelegentlich als Sozialdemokrat bezeichnet hat, ist wohl der am weitesten links stehende prominente US-Politiker (und Noch-Präsidentschaftskandidat); er findet sich irgendwo inner- oder außerhalb des linken Randes der amerikanischen Demokratischen Partei – doch in Europa würde er, wenn man dem Politischen Kompass vertrauen darf, eher als Mittel-Links-Politiker gelten. Hillary Clinton (und mit ihr die Mehrzahl der Demokraten) gehört auf diesem Kompass ins rechts-autoritäre Feld – ihr wären vermutlich die meisten CDU-Politiker noch zu links. Republikaner hingegen, ob sie nun Trump, Cruz, oder Bush heißen (und mit ihnen die Mehrzahl der zuverlässig konservativ wählenden Amerikaner) stehen so extrem in der rechten und autoritären Ecke dieses Kompasses, dass sie in Europa schon ganz weit am rechten und vor allem fundamentalistischen Rand nach Gleichgesinnten suchen müssten.
Wenn wir nun aber davon ausgehen, dass das intellektuelle Spektrum der akademischen Welt in den USA etwa die gleiche Bandbreite hat wie im Rest der westlichen Welt, dann sieht man, dass diese scheinbare “Linksverschiebung” nicht wirklich den Denkerinnen und Denkern anzulasten ist; es ist der politische Magnetpol in den USA, der diese Missweisung verursacht. In Europa ist es sicher viel leichter, sehr konservative Akademiker und Akademikerinnen zu finden (in Deutschland haben die sogar ihre eigene Partei gegründet – falls sich noch jemand daran erinnern will).
Trotzdem hat Kristof mit seiner (Selbst-)Kritik nicht Unrecht: Jemanden wegen seiner Weltanschauung abzulehnen ist Diskriminierung. Und gerade an Hochschulen muss Platz sein für Denkrichtungen aller Art. Doch das maßgebliche Wort hier ist “Denken” – wie schon Rosa Luxemburg sagte, ist Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden – was eben voraussetzt, dass dabei überhaupt ein Denkprozess stattgefunden hat. Und ja, mit dem Gedankengut, selbst wenn es von gefährlich weit rechts kommt, wird man sich auseinandersetzen müssen – und sei es nur, weil dies den Zwang für die so Denkenden einschlösse, ihre Position diskursfähig zu artikulieren und aus dem Denken somit auch ein Nachdenken über die eigene Position wird.
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