Wie genau man von Europa aus mitverfolgt, was sich im US-Präsidentschaftswahlkampf abspielt, kann ich zwar nicht (mehr) sehr gut beurteilen, aber ich fürchte, dass die Stoßwellen, die hier beinahe täglich durch die öffentliche Meinung rauschen, auch über den Atlantik hinweg spürbar sind. “Fürchte” deswegen, weil ich die Erfahrung eher als schmerzhaft empfinde und mir kaum vorstellen kann, dass sich dieses Schmerzpotenzial durch Distanz prinzipiell neutralisiert wird, selbst wenn es mit Sicherheit geringer ist. Aber was genau los ist, warum dieser Wahlkampf so anders – und so surreal – ist, das ist nur scheinbar einfach zu erklären. Denn dass statt zur Sache zur Person argumentiert wird, ist ja in einem Wahlkampf wie dem ums Weiße Haus, in dem nicht Parteien, sondern Personen gewählt werden, zwangsläufig zu erwarten: Dem Ex-Bürgerkriegsgeneral und 18. US-Präsident Ulysses S. Grant wurde im Wahlkampf nachgesagt, dass er ein Säufer sei und “so hirnlos wie sein Sattel”; Franklin Pierce, der von 1853 bis 1857 im Weißen Haus residierte, wurde von einem politischen Rivalen als “Zuhälter” (Pimp) beschimpft – und selbst die zutiefst verehrten Gründerväter der USA pflegten nicht nur den höflichen Diskurs: Ein “blinder, kahler, verkrüppelter, zahnloser Mann, der eine scheußliche Zwittergestalt ist, weder mit der Kraft und Fitness eines Mannes, noch der Sanftheit und Sensibilität einer Frau” urteilte Thomas Jefferson über seinen politischen Rivalen und Amtsvorgänger John Adams.
Gelogen wurde schon immer was das Zeug hält, und das ist wohl bei jedem Politiker so (“Woran erkennt man, dass ein Politiker lügt?” lautet eine nicht sehr witzige Scherzfrage in den USA. Antwort: “Er bewegt seine Lippen.”) – seit Macchiavelli gehört das Verbiegen der Wahrheit und das Nichteinhalten von Versprechen (die zwei Grundvarianten der politischen Lüge) zur rhetorischen Grundausstattung der Politik. Nichts Neues also im aktuellen US-Wahlkampf – und doch ist nichts mehr so, wie es mal war. Mit der Frage nach denn Gründen haben sich ein Dutzend ExpertInnen des Massachusetts Institute of Technology näher befasst, und ich finde einiges davon sehr einleuchtend. Zum Beispiel, wenn mein Kollege Ed Schiappa (genau genommen ist er mein Chef) darauf hinweist, dass sich Journalismus von einer Form der Berichterstattung zu einer eher subjektiv ausgerichteten Kommunikationsform entwickelt hat, in der Geschehenes nur insofern relevant ist, als es die Berichterstattung inspiriert. Die Konzequenz ist, dass nicht mehr das Faktische maßgeblich ist, sondern die Wahrnehmung des Faktischen durch die Berichterstatter. Mit anderen Worten: Nur was aus journalistischer Sicht unterhaltsam und erzählenswert erscheint, wird dann überhaupt berichtet. Und Schlammschlachten mit ad hominems sind als Lese- oder Sendestoff nun mal unterhaltsamer als Wahlkampfprogramme; kein Wunder also, dass die Medienberichte eher negativ im Ton sind.
Und obwohl das 21. Jahrhundert bald alt genug ist, dass es selbst wahlberechtigt wäre, ist der Sexismus, der selbst im 20. Jahrhundert eigentlich schon antiquiert gewesen wäre, ein unverändert aktuelles Problem – zum ersten Mal kandidiert eine Frau als Spitzenkandidatin einer regierungstragenden Partei der USA für die Präsidentschaft, doch die Messlatte, die an sie angelegt wird, ist immer noch die Alte, die wohl schon Königin Victoria wiedererkannt hätte: Gibt sich Hillary CLinton eher feminin in Stimme und Benehmen, dann gilt sie als zu schwach und zu weich; zeigt sie dagegen professionelle Schärfe und Ehrgeiz, wird sie als schrill oder “nicht liebenswert” abgekanzelt. In den Medien ebenso wie in der öffentlichen Meinung.
Auch wenn man nicht jedem einzelnen dieser Beiträge in jedem Detail zustimmen muss, ist es doch eine lesenswerte Sammlung von Positionen und Einsichten.
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