Neuengland, so sagt man, habe nur zwei Jahreszeiten: Winter und den 4. Juli. Das ist zwar eine klassische Übertreibung, aber auch nicht sooo weit von der Realität entfernt, wenn mitten im Frühling (= gestern) die Temperaturen in Boston und Cambridge mit Mühe auf sieben Grad Celsius klettern und der Nieselregen die gefühlte Temperatur noch weiter in den Bereich der Ungemütlichkeit senkt. So ein Tag, an dem man den sprichwörtlichen Hund nicht vor die Türe jagen würde, war der 22. April 2017 – der Tag, and dem (nicht nur) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit eingeladen waren, im Namen und für die Zukunft der Wissenschaft zu demonstrieren.
Panorama der zentralen March-for-Science-Veranstaltung in Boston
Marschiert sind sie in Boston und Cambridge – ob es nun mehrere Zehntausend waren, wie von den OrganisatorInnen angekündigt, oder nur gerade mal Zehntausend waren (ich halte die erste Größenordnung für plausibler – allein der etwa einen Kilometer lange Zug, der sich, unter anderem mit mir mittendrin und von einem substantiellen Harvard-Kontigent, vom Massachusetts Institute of Technology in Richtung Boston Common bewegte, muss nach meiner vorsichtigen Schätzung weit mehr als eintausend Teilnehmer gehabt haben und war doch nur einer von vielen Armen eines sternenförmigen Marsches zum Bostoner Zentrum). Gründe, an der Demonstration teilzunehmen, mag es so viele gegeben haben wie Demonstrierende – vermutlich sogar mehr. Ich selbst hatte viele Gründe mitzumarschieren, von der Ablehnung der gezielt antiwissenschaftlichen Politik der aktuellen US-Regierung hin zum Schutz meines eigenen Arbeitsplatzes innerhalb einer Institution der Forschung und Lehre; doch die Zielgruppe dieser Kundgebung waren nicht nur “die” in Washington (Wissenschaftsfeindlichkeit gibt es dort ja nicht erst seit Trump ins Weiße Haus eingezogen ist), sondern auch die breite Öffentlichkeit, die vermutlich ihr Wissenschaftsbild immer noch via Hollywood bezieht – was dank der CSI-Fernsehserien vielleicht nicht mehr ganz so schräg ist, aber immer noch eher so aussieht wie Emmett Brown als beispielsweise wie Elizabeth Blackburn. Wissenschaft wird von Menschen betrieben, die so vielfältig sind wie … ja, wie Menschen eben sind. Auch das ist etwas, was im Namen der Wissenschaft kommuniziert werden muss.
Aber ein ebenso wichtiger Grund war das zwar vergleichsweise stille (ich bin bei solchen Veranstaltungen eher schweigsam, das Skandieren von Parolen ist nicht wirklich mein Ding), aber dennoch nicht überhörbare Eintreten dafür, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitreden dürfen, ja sogar müssen, wenn es um das allgemeine – ebenso wie ihr eigenes – Interesse geht. Was eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber eines der Argumente gegen die Wissenschafts-Demos war, dass Wissenschaft irgendwie “neutral” sein müsse. Was wohl eine Fehleinterpretation der wissenschaftlichen Verpflichtung zur sachlichen Unvoreingenommenheit ist: Wissenschaft muss in der Tat unvoreingenommen an ihre Fragen herangehen – aber warum das heißen soll, dass sie dann nur neutrale Fakten präsentieren dürfen, also keine Handlungsempfehlungen oder gar Postulate aus den Antworten ableiten dürfen, die sie gefunden haben, ist nicht nur nicht logisch, es widerspricht dem, was Wissenschaft soll und will.
Wenn wir unseren Studentinnen und Studenten beibringen, über ihre wissenschaftliche Arbeit zu schreiben, dann lehren wir sie ja nicht nur, Methoden und Resultate niederzuschreiben: Die typische Struktur einer wissenschaftlichen Arbeit folgt der IMRaD-Struktur: Introduction, Methods, Results, and Discussion (im Deutschen sagt man wohl EMED – Einleitung, Methoden, Ergebnisse, Diskussion) – und Diskussion schließt nicht nur die Abwägung ein, wie zuverlässig die Ergebnisse sind, sondern auch wie relevant. Diese Relevanz, so lehren wir, ist auch in Relation zu einer Motivation für die Arbeit, für die spezifische Fragestellung zu sehen, die diese Forschungsarbeit in einer größeren – und ja, manchmal auch politischen – Zusammenhang stellt. Wenn junge ForscherInnen am MIT beispielsweise nach besseren Materialien für Solarzellen suchen, dann nicht nur, weil das eine technische Herausforderung ist, sondern auch, weil Solarenergie einen gesellschaftlichen Nutzen hat. KlimaforscherInnen wollen beispielsweise nicht einfach nur Klimadaten messen, sondern auch herausfinden, ob und wie sich das Klima verändert und was dies für die Menschheit bedeutet. Und diese Relevanz ist ein fundamentaler Teil ihrer Arbeit, denn nur sie begründet, warum Wissenschaft mit öffentlichen Mitteln gefördert wird. Eigentlich zu trivial, dass man es überhaupt betonen sollte: Wissenschaft ist (immer!) Forschung mit gesellschaftlicher Relevanz. Und deshalb ist es absurd zu fordern, dass WissenschaftlerInnen schweigen sollten, wenn es um die Auswirkungen der Resultate geht, die sie durch ihre Arbeit gefunden haben. Und noch absurder, sie durch Androhung mit dem Entzug von Fördermitteln zum Schweigen oder zumindest zur moderaten Zurückhaltung zwingen zu wollen.
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