Der amerikanische Sportarzt Dr. Lawrence Nassar, der gerade zu mindestens 40 Jahren Gefängnis verurteilt wurde; der Filmproduzent Harvey Weinstein; ein Dreckiges Dutzend (und mehr) amerikanischer Spitzen-Politiker; eine lange Liste prominenter amerikanischer Journalisten; eine noch längere Liste von Hochschulprofessoren; (Leserinnen und Leser: deutsche Beispiele, wie etwa dieses hier, nach eigenem Wissen hier ergänzen) – all diese Fälle haben unter anderem mindestens eine Tatsache gemeinsam: sie waren eigentlich nie (oder zumindest nie sehr lange) ein Geheimnis, auch wenn sie der breiten Öffentlichkeit – medienwirksam, wie ich zugeben muss – als “Enthüllungen” präsentiert werden. Mitwisserinnen und Mitwisser gab es viele, auch wenn sie sich nicht unbedingt im juristischen Sinn als Zeuginnen und Zeugen qualifiziert hätten.
Und um diese – schweigende, oder zumindest sehr diskret zurückhaltende – Mitwisserschaft soll’s heute mal gehen. Genauer gesagt: um meine schweigende, oder zumindest sehr diskret zurückhaltende Mitwisserschaft solcher sexuell ausbeuterischer Taten, deren Strafbarkeit ich vermutlich nicht hätte bezeugen können, deren Existenz mir – und vielen meiner Kolleginnen und Kollegen, übrigens – sehr wohl bewusst war. In einem Gespräch, das ich vor zwei Tagen mit einer Kollegin in unserer Teeküche über die neuen Regeln hatte, die festlegen, dass sexuelle Kontakte zwischen Vorgesetzten und Untergebenen (also auch zwischen Lehrpersonal und Studierenden) am MIT nicht geduldet werden, fiel mir auch wieder folgende Begebenheit ein, die in der Größenordnung von Jahrzehnten zurückliegt und die ich damals zwar schockierend fand, aber trotzdem nur als eine persönliche Anekdote – und nicht als das, was es wirklich war: ein unübersehbarer Hinweis auf sexuellen Missbrauch – in meinem Gedächtnis abgelegt hatte:
Ich war – damals noch New-York-Korrespondent eines großen deutschen Verlages – zu einem Gastvortrag an einer angesehenen deutschen Journalistenschule eingeladen. Nach dem Vortrag fragte mich mit der Leiter der Schule, in seinem Büro und in Gegenwart seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ob ich denn schon Pläne für den Abend hätte – man würde mich gerne zum Essen ausführen. Nein danke, antwortete ich, ich sei schon mit meiner Frau verabredet. “Was wollen Sie denn mit Ihrer Frau”?, entgegnete der Schulleiter, in gespielter (oder doch echter?) Verwunderung. “Wo wir doch so viele attraktive Volontärinnen für Sie haben.”
An dieser Stelle endete bisher meine Erzählung der Anekdote. Doch im Gespräch mit meiner Kollegin kam, was angesichts der aktuellen Umstände auch unausweichlich sein muss, die Frage: Und wie hast Du reagiert? Und ganz ehrlich: Nach heutigen Maßstäben war meine Reaktion irgendwo zwischen ausweichend und abwehrend – “ich liebe meine Frau”, hatte ich damals geantwortet. Denn was mich damals in erster Linie empörte, war der fehlende Respekt gegenüber mir und meinem Privatleben, sowie die implizierte Annahme, dass meine Frau (inzwischen Ex-Frau, aber das ist eine ganz andere Geschichte) sich nicht mit den angepriesenen Volontärinnen würde messen können. Aber mir war auch absolut bewusst, dass diese Worte des Schulleiters implizierten, dass er diese jungen Frauen als verfügbare Sexualobjekte sah. Und wie ich später von Volontärinnen und Kolleginnen erfuhr, sie auch so behandelte (ob es dabei auch zu justiziablen Handlungen* kam, weiß ich allerdings nicht – weshalb ich auch weiterhin als Zeuge untauglich wäre).
Aber solche Begebenheiten zeigten allenfalls kurzzeitige und sehr lokale Ausschläge auf dem Seismometer der anständigen Empörung. Sie waren schließlich alles andere als überraschend: Alle meine Kolleginnen und Kollegen wussten beispielsweise, dass ein Mitarbeiter grundsätzliche jede Volontärin oder Praktikantin “anbaggerte” – er selbst prahlte sogar damit und praktizierte das, was (da er durchaus einen Einfluss auf ihre berufliche Zukunft hatte) zumindest als versuchte sexuelle Nötigung gelten würde, selbst in Anwesenheit von Kolleginnen und Kollegen. Und auch der war kein Sonderfall, der mehr als eine gerunzelte Stirn provozieren konnte: Es war schließlich fast unmöglich, bei all den ondits über lüsternen Chefredakteure, Ressortleiter, erfahrene Kollegen (oder wie immer man die Männer, die Macht über jüngere Kolleginnen und Kollegen hatten, nennen will) nicht den Faden zu verlieren. Und es war selbstverständlich, dass junge Frauen ihre Verfügbarkeit zumindest suggerieren oder implizieren mussten – wenn sie beispielsweise zu Management-Veranstaltungen mit dem ausdrücklichen Hinweis “eingeladen” (man könnte auch “abkommandiert” sagen) wurden, sich um die natürlich männlichen Gäste zu “kümmern”.
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