Ich gestehe gerne, dass ich losgeheult habe, als am Samstagmittag die Nachricht reinkam, dass Joe Biden zum Sieger der US-Präsidenschaftswahl erklärt wurde. Aber es waren nicht die Freudentränen, die ich mir nach dem Erwachen aus diesem vier Jahren langen nationalen (globalen?) Alptraum gewünscht hätte. Tränen der Erleichertung, gewiss, aber auch Tränen der Erschütterung – Erschütterung darüber, wie krank die Gesellschaft, in der ich lebe, trotz dieser Entscheidung immer noch ist. Denn selbst wenn Trump die Wahl nicht gewonnen hat, so hat er doch WählerInnen gewonnen, und davon nicht zu wenig: Noch bevor alle Stimmen ausgezählt sind, hat er schon deutlich mehr Stimmen erhalten als der bisherige Rekordhalter Barack Obama, der im Jahr 2008 insgesamt 69.646.219 Wählerstimmen erhielt. Sicher, Joe Biden konnte vier Millionen mehr Menschen für sich überzeugen, aber rund 70 Millionen sind nach diesen vier Jahren unter Trump immer noch der Überzeugung, dass es auch (mindestens) die nächsten vier Jahre noch so weitergehen sollte.
Und diese Menschen werden nicht einfach ihre Position ändern, weil die Wahl nicht in ihrem Sinn ausgegangen ist. Die Entschuldigungen, die wir damals für sie gemacht hatten – dass sie die ganze Sache für einen Reality-TV-Stunt gehalten hatten, der halt schiefgegangen war; dass sie dachten, Trump werde schon in die Reihe kommen oder vom Kongress entsprechend in die Schranken gewiesen (wie ich selbst ja naiv gehofft hatte)… der Stimmenzuwachs für Trump beweist ganz klar, dass dies immer nur ein Trugschluss gewesen sein konnte.
Vor einem Comeback für Trump fürchte ich mich nicht – er ist ein Loser, und von diesem Stigma wird er sich nicht befreien können. Aber wenn es jemand, dem eigentlich alle Charaktereigenschaften eines Demagogen fehlen (kein Charme, kein Charisma, kein Humor, kein Interesse an irgendwem außer sich selbst), mit unverbrämten rassistischen, sexistischen, xhenophoben Ködern 70 Millionen Menschen für sich gewinnen kann, wie leicht wird das erst jemandem fallen, der/die ein geschickterer VerführerIn ist? Und das Heilmittel gegen diese Verführer – Information und Aufklärung – wirkt nicht mehr: Trumps größter und vermutlich nachhaltigster Erfolg war, das Vertrauen in die Medien zu zerstören und Wissen(schaft) zum Volksfeind zu erklären.
Eine Prognose wage ich (und die ist nicht ermutigend): Fox News, Breitbart und all die anderen “Alternativ-Medien” (die Liste ist lang), die neun Monate lang nur die Achseln gezuckt haben, als Tausende und -Zigtausende an Covid-19 starben, die Pandemie für einen Schwindel hielten und Kritik an der Unfähigkeit der Trump-Regierung für unpatriotisch, werden am Tag Eins nach Bidens Amtseinführen jedes einzelne Covid-Todesopfer lautstark bejammern und Biden für jedes einzelne Menschenleben, das unter seiner Amtsführung stirbt, als Mörder bezichtigen. Und die gleichen Stimmen, die Obama noch vier Jahre nach seinem Abschied für die Pandemie (ausgelöst durch ein Virus, das damals wahrscheinlich noch nicht einmal existierte) verantwortlich machen wollten, werden Schaum vorm Mund kriegen, wenn man sie darauf hinweist, dass Trump den Karren für Biden tief in den Dreck gefahren hat.
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