Eines der zahlreichen Potentiale von NGS, der Technologie für das massiv-parallele Sequenzieren von DNA, ist die schnelle Diagnostik bei kranken Neugeborenen, die an den Folgen eines Gendefekts leiden. So wie im Falle eines zwei Monate alten Jungen, der vor einiger Zeit schwer krank zur Welt kam und nach nur zwei Monaten auf der  Neugeborenen-Intensivstation (NICU) in Kansas City mit dem Tod durch Leberversagen rang. Der Genetiker S. Kingsmore und sein Team nahmen ihm und seinen Eltern Blut ab, sequenzierten mittels NGS innerhalb dreier Tage die drei kompletten Genome und fanden eine seltene Mutation, die beide Eltern besaßen und jeweils an das Kind vererbt hatten. Diese Mutation verursachte eine Erkrankung, wobei ein überaktives Immunsytem Leber und Milz angreift und schädigt. Ausgehend von dieser Diagnose wurden dem Neugeborenen sofort immunsystemdämpfende Medikamente verabreicht, so daß sich sein Zustand rasch verbesserte, er überlebte und inzwischen gesund zu Hause lebt. Hätte man das normale humangenetisch-diagnostische Prozedere durchlaufen, hätte es bis zu einen Monat gedauert, bis die Untersuchungsergebnisse vorgelegen hätten und der Junge wäre jetzt höchstwahrscheinlich tot.

Dieses Kind war eines von 44 kranken Neugeborenen, die von der Gruppe untersucht worden waren; für 28 dieser Patienten konnten sie innerhalb kürzester Zeit eine Diagnose stellen und etwa die Hälfte davon profitierte von einer direkt auf der Diagnose aufbauenden Behandlung. Die Untersuchungsreihe ist Teil eines vor einiger Zeit gestarteten und noch bis 2019 laufenden, größeren Forschungsprojekts, im Rahmen dessen untersucht werden soll, ob man durch schnelles Sequenzieren Neugeborenen unnötige Untersuchungen und nutzlose Behandlungen ersparen aber auch, ob man damit Eltern unterstützen kann, über die Versorgung und Pflege ihres Kindes zu entscheiden, wenn bei diesem eine sicher tödlich verlaufende Erkrankung diagnostiziert wird. Denn selbst wenn ein Kind stirbt, kann das Wissen über die genetische Grundlage der Krankheit den Eltern helfen, damit umzugehen und stellt überdies eine wichtige Information über ihre eigene genetische Disposition dar.

Die Technik, die die Gruppe um Kingsmore für ihre Untersuchungen einsetzt, beruht auf der vollständigen Auslesung der Genome von Eltern und Kindern mittels NGS und einer speziellen Software, die aus dem gigantischen Wust an genetischer Information solche Sequenzen herausfiltert, die mit den beim Neugeborenen beobachteten Symptomen assoziierbar sind. Nachdem so eine Diagnose gestellt worden ist, werden die Daten in einer sicheren Datenbank für spätere Verwendung gespeichert.

Natürlich sind hier all die ethischen und medizinrechtlichen Aspekte hinsichtlich Sicherheit von und Zugang zu diesen Daten und ihrer zukünftigen Verwendung zu beachten, die ich schon im Artikel zu NGS angesprochen habe, insbesondere, da es sich um die Daten von noch nicht mündigen Kindern handelt.

Trotz aller berechtigen Bedenken und Vorsicht ist das Potential dieser Technik aber nicht von der Hand zu weisen und bereits einige andere Forschergruppen streben Förderung und die Zustimmung von Ethikkomitees für ähnliche Projekte an.

Ich selber würde sehr gerne an einem solchen Projekt zur Untersuchung von Patienten, die dem plötzlichen Kindstod (SIDS) erlegen sind, mitarbeiten. Wie ich schon im Artikel zu SIDS und einem weiteren Artikel zu Mutationen im Gen für Hitzeschockproteinen bei SIDS-Opfern schrieb, hätten Erkenntnisse aus solchen Untersuchungen nämlich nicht nur forensische Relevanz, indem eine möglichst vollständige Aufklärung aller möglichen, SIDS prädisponierenden genetischen Varianten die postmortale Diagnose von SIDS und damit Abgrenzung von etwaigen Tötungsdelikten erleichtern würde.

Man könnte sie auch prognostisch, also vorbeugend einsetzen, indem man direkt nach der Geburt durch gezielte genetische Untersuchungen alle potentiell mit einem erhöhten Risiko für SIDS assoziierten genetischen Determinanten bestimmen würde, denn dann wäre man vorgewarnt, könnte ihre Auswirkung medikamentös und/oder durch besondere Pflege- und Sicherheitsmaßnahmen neutralisieren und damit SIDS und den Einsatz der Forensiker verhindern.

Entgegen der griechischem Mythologie wird also die SphiNGS der Molekularbiologie helfen, Rätsel zu lösen und so hoffentlich viele Menschenleben retten.

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Kommentare (4)

  1. #1 CM
    10/06/2016

    Hallo,

    das ist toll – und interessant.

    Gibt es eine PMID oder eine andere Referenz? Ich frage, weil ich das schon recht schnell finde: binnen 3 Tagen sequenzieren, annotieren / mappen und Mutationen finden ist zwar gut machbar, doch eine etablierte Pipeline hilft. Mich interessiert die Softwareseite aus professionellen Gründen: Was führ Tools sind im konkreten Fall zusammengeschaltet?

    Gruß,
    Christian

  2. #2 Aveneer
    11/06/2016

    Das ganze Genom? Oder “nur” die Exons? Die Introns bzw. nicht codierenden Regionen zu Sequenzieren halte ich für die hier zu klärende Fragestellung für unnötig und reduziert die Datenmenge erheblich.

  3. #3 CM
    12/06/2016

    @ Aveneer: Ja, obschon ich mich nicht genug auskenne, um “eine Erkrankung, wobei ein überaktives Immunsytem Leber und Milz angreift und schädigt” in die Frage zu übersetzen, welche Information hinreichend ist. Auch dafür wäre eine PMID oder andere Referenz interessant.

  4. #4 Aveneer
    13/06/2016

    Vielleicht – “PMID: 26334177” ?
    1,696 Neugeborene (+ ggf. Eltern?) – was sind das 2-5 Millionen €?