Das ist der Befund unserer aktuellsten Publikation [1], die ein Nachzügler aus dem inzwischen längst abgeschlossenen Projekt zur molekularen Ballistik ist.

(Zum Einlesen in die Thematik bzw. als Grundlage zum besseren Verständnis empfehle ich Einsteigern ein paar vorherige Artikel: zur Genexpression, zur forensischen RNA-Analyse und zum massiv-parallelen Sequenzieren (MPS))

Heute aus der Rubrik: Erfolgreich scheitern 🙂

Die Idee war, aufbauend auf dem Befund einer früheren Studie zum Nachweis von Kopfschüssen mittels RNA-Analyse [2], eine Methode zu finden, mit der sich auf Grundlage molekularbiologischer Evidenz die genaue Stelle einer Kopfverletzung, insbesondere einer Schußverletzung nachweisen läßt. Es gehen nämlich häufig unterschiedliche Arten und Ursachen von Kopfverletzungen mit verschiedenen typischen Verletzungsstellen einher. So sind beispielsweise Verletzungen am Hinterkopf sehr selten bei Suiziden mit Schußwaffen, hingegen häufig bei Tötungsdelikten (oder, wenn es richtig blöd läuft, beim Stochern im Wasser nach Leichenteilen mit einer Metallsonde [3]), bei bestimmten Unfällen wiederum werden typischerweise andere Stellen verletzt. Manchmal entstehen auch schwer interpretierbare Wundbilder durch untypische Schußverläufe [4]. Insofern wäre eine Methode, die bei der Kopftreffersublokalisation hilfreich ist, nicht nur von forensischem sondern auch von traumatologischem Interesse, insbesondere, wenn der Schädel einer verstorbenen Person völlig zerstört (oder die Leiche entfernt) wurde und die Verletzung nicht anhand des Schädels selbst, sondern lediglich durch Untersuchung von Anhaftungen an Waffen/Gegenständen/Fahrzeugen o.ä. oder von Spritzspuren, bei molekularballistischen Analysen speziell von Backspatter, rekonstruiert werden kann. Auch bei dieser Studie ging es also, wie bei fast all meiner Forschung aus den letzten Jahren, um die Kontextualisierung von Spuren, also die Einordnung in ihren Entstehenskontext.

Unser Untersuchungskollektiv bestand deshalb aus je 10 Proben aus den Frontal-, Temporal-, Parietal-,  und Okzipitallappen beider Hirnhälften (Hemisphären) von insgesamt 10  Verstorbenen (5 M, 5 F; mittleres Alter 56,5 Jahre), die im Rahmen rechtsmedizinischer Obduktionen entnommen worden waren, wobei wir Individuen mit Kopfverletzungen, neurodegenerativen oder anderen bestätigten Hirnerkrankungen ausgeschlossen hatten.

Aus den Proben wurde RNA extrahiert, quantifiziert und qualitätsgeprüft und dann einer Sequenzierung des gesamten Transkriptoms zugeführt, wofür leistungsstarke MPS-Geräte eingesetzt wurden. Bei solchen Analysen entstehen enorm große Datenmengen, die ohne spezielle Softwares, rechenstarke Computer und bioinformatische Expertise nicht zu bewältigen sind. Deshalb übernahm an dieser Stelle „unser“ Bioinformatiker Lucas mit der Aufgabe, die Daten zu bereinigen, normalisieren und dann mit geeigneten Algorithmen nach in den Proben aus den einzelnen Hirnarealen nach mRNA-Markern mit spezifischer Expression zu suchen, also nach Markern, die möglichst stark möglichst nur in einem der Areale ausgeprägt werden und in den anderen nicht.  Die Kriterien für die Auswahl geeigneter Kandidaten hatten wir ihm dafür vorgegeben.

Die Suche gestaltete sich schwieriger als gedacht, doch am Ende filterte Lucas aus über 1 Million differentiell regulierter RNAs eine Liste von 29 Kandidaten heraus, die die Kriterien erfüllten und damit zumindest theoretisch in Frage kamen. Dann jedoch folgte die Ernüchterung denn wir stellten fest, daß alle diese 29 Kandidaten in Proben aus dem Parietallappen nachgewiesen worden waren, so daß an dieser Stelle schon klar war, daß wir anhand der Daten kein Modell zur Unterscheidung aller vier Hirnareale würden erstellen können. Aber vielleicht konnten wir wenigstens eine Methode finden, um Spuren aus dem Parietallappen von Nicht-Parietallappen zu unterscheiden, auch das hätte noch einen forensischen Wert. Also sahen wir uns die Expressionsprofile aller 29 Kandidaten in verschiedenen Geweben mittels Ressourcen wie  BioGPS und Protein Atlas (Hirn) an. Dabei zeigte sich, daß alle Kandidaten entweder zu gleichmäßig über oder aber in mehreren Regionen des Kortex exprimiert werden und daher für unseren Zweck ungeeignet waren. Zwei Kandidaten wollten wir uns dennoch genauer ansehen, PVALB und CDR2L, die diese im Kleinhirn stark exprimiert werden, welches anatomisch am Hinterhaupt liegt. Wir hatten noch die Hoffnung, so einen Weg zu finden, Proben aus dem Hinterhaupt von allen anderen Bereichen unterscheiden zu können; auch das wäre ja von forensischem Interesse.

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Kommentare (8)

  1. #1 RPGNo1
    23/02/2024

    Heute aus der Rubrik: Erfolgreich scheitern

    Topp.

    Man erlebt ja leider oft genug, dass Studien zu pseudowissenschaftlichen Themen wie z.B. Homöopathie oder aktivistisch aufgeladenen Aufgabenstellungen (siehe die aktuelle Diskussion um Identitätspolitik) “negative” Studien nicht veröffentlichen oder sie so verschwurbelt formulieren, dass sie doch irgendwie “erfolgreich” klingen, um eine Agenda weiter voranzutreiben.

  2. #2 Staphylococcus rex
    23/02/2024

    Interessante Fragestellung. Ein “negatives” Ergebnis muss man dabei nicht als Scheitern betrachten. Es kann auch Ausgangspunkt für neue Hypothesenbildungen sein. Ein Aspekt könnte z.B. die Frage nach der Plastizität des Gehirns sein, wenn die Hirnareale bei der RNA-Expression ununterscheidbar sind, dann stellt sich die Frage, wie stark fixiert bestimmte “Zentren” auf einzelne Hirnareale sind.

    Auch stellt sich für mich die Frage, ob die hier besprochene Frage abschließend geklärt ist. Die Zeiten, in denen ich Anatomie und Histologie büffeln mußte, sind schon mehr als nur ein paar Jahre her, deshalb sind meine Einwürfe eher allgemeiner Art: Bei der Frage nach lokalen Unterschieden im Gehirn würde ich die Neuronen eher ausschließen. Unterschiede würde ich eher von den Gliazellen erwarten, habe aber im Augenblick keine Kennung, wie die unterschiedlichen Gliazellen im Gehirn verteilt sind. Außerdem müßte man wissen, ob sich die Expressionsmuster in unterschiedlichen Gliazellen unterscheiden (unter Berücksichtigung, dass es Unterschiede im wachsenden und im erwachsenen Gehirn gibt). Am Einfachsten dürfte der Unterschied zwischen Mikroglia und den restlichen Gliazellen sein, weil diese aus unterschiedlichen Keimblättern stammen, dies würde aber nur Vorteile bringen, wenn die Mikroglia regional unterschiedlich verteilt ist.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Gliazelle

  3. #3 Dr. Webbaer
    23/02/2024

    Eher überraschend, dieses Resultat?

    Denkbarerweise kann es basierend auf den erfassten Daten noch mit anderen Markern versucht werden.
    Hier könnte instruierte AI sozusagen eigeninitiativ ad ultimo auf den Daten “herumhühnern”.
    Vielleicht ist es eine Idee das Vorhaben so aufzubereiten, also dass eine AI so ran kann.

    In Wirtschaftsunternehmen fällt es manchmal nicht leicht den Projekterfolg “Es ging mit dieser Methode nicht, es ist unwahrscheinlich, aber nicht ganz sicher, dass es so grundsätzlich nicht geht!” den Auftraggebern zu verklickern, Kaufleuten in der Regel.

    MFG – WB (der selbstverständlich dem geschilderten hoch komplexen und spannenden Vorhaben nur grob folgen konnte)

  4. #4 Dr. Webbaer
    23/02/2024

    @ Kommentatorenkollege ‘Staphylococcus rex’

    Ein “negatives” Ergebnis muss man dabei nicht als Scheitern betrachten. [Ihre Nachricht im Kommentariat, ausgeschnitten]

    Kann auch als Scheitern bezeichnet werden, wichtich, mittelniederdeutsch, das Scheitern als selbst werthaltig zu erkennen (wenn ordentlich vorgegangen worden ist, was aber vom Schreiber dieser Zeilen vorausgesetzt wird, auch weil die Publikation des Vorhabens vorliegt, die anderen nur helfen kann).

    Vgl. auch so :
    -> https://de.wikipedia.org/wiki/Scheitern_(Misserfolg)
    -> https://www.amazon.com/How-Fail-Almost-Everything-Still-ebook/dp/B00COOFBA4 (2013)

    MFG – WB

  5. #5 Staphylococcus rex
    23/02/2024

    PS: Wenn die Gesamt-RNA sequenziert wird, ist dies ein offenes Herangehen an diese Fragestellung. Aus methodischer Sicht dürfte ein “positives” Signal (der gehäufte Nachweis einer bestimmten Sequenz in einem bestimmten Areal) leichter nachzuweisen sein als ein “negatives” Signal (das Fehlen einer bestimmten Sequenz in einem Areal), weil bei einer niedrigen Anzahl an Sequenzen die Frage der Signifikanz im Zahlenverhältnis noch schwieriger zu klären ist. Der Job des Bioinformatikers ist bei derartigen Fragestellungen in jedem Fall sehr anspruchsvoll.

  6. #6 Dr. Webbaer
    23/02/2024

    Zur möglichen Datendichte noch angemerkt :

    -> https://www.laborpraxis.vogel.de/in-dna-gemeisselt-dna-als-speichermedium-a-d68d6574e6ba3cdc1bb62ace955c780e/ (‘Im Vergleich zu traditionellen Speichern wie Festplatten oder Flashspeichern mit einer Datendichte von ca. 1013 bzw. 1016 bits pro cm3, erreicht DNA eine Datendichte von 1019 bits pro cm3, oder in anderen Worten eine Datendichte von 1 Milliarde TB pro Gramm mit einer enormen molekularen Stabilität [1].’)


    [1] [1] Extance A (2016): How DNA could store all the world’s data. (2016)


    Das Herumwühlen in Daten, um das Testen von Hypothesen zu bewerkstelligen, vgl. :
    -> https://en.wikipedia.org/wiki/Statistical_hypothesis_test
    …ist so-o eine Sache, auch eine Herausforderung, bereits diese soz.- negativistische Idee zu begreifen, die soz. perfekte Komplementär-Hypothesen zu testen anleitet …

    “Positive Signale”, Ihre Wortwahl, Kommentatorenkollege ‘Staphylococcus rex’ gibt es ja nie, sondern nur die Abwesenheit von (definierbarer) sozusagen Normalität.

    Commander Spock legte sein Augenmerk insofern auch stets auf sog. Anomalien.

    MFG – WB

  7. #7 rolak
    23/02/2024

    [3]

    Bis zum Lesen der Endnote ging ich davon aus, daß beim Stochern im Fluss irgendwie eine Waffe angestupst wurde, die den stochernden Menschen qua HinterkopfPerforation über den Jordan schickte…

    daß alle diese 29 Kandidaten

    Dieser Nebensatz unkomplett.

    btt: Eine äußerst sinnvolle NegativErgebnis-Veröffentlichung.

  8. #8 Cornelius Courts
    24/02/2024

    danke, rolak, ist repariert 😉