Vielleicht hätte ich die Titelstory der aktuellen Ausgabe des US-Magazins “Seed” ja mit mehr Augenzwinkern lesen sollen. Leider ist der Artikel online nicht verfügbar, aber es geht darin um die Implikationen, die Quantenmechanik für unseren Begriff der Realität bringt, und er beruft sich dabei im Wesentlichen auf der Arbeit des Wiener Instituts für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). Tenor der Story ist, dass Realität erst durch den Beobachter erzeugt wird – und dass dies nicht nur für die subatomare Vorgänge gilt, mit denen sich die Quantenphysik ja vorrangig zu befassen scheint, sondern auch für makroskopische Strukturen. Mit anderen Worten: Mein rotes Auto könnte auch ein blaues Kaninchen sein, wenn ich nicht hinschaue.
Nun kann es ja sein, dass das Team um den IQOQI-Leiter Anton Zeilinger den “Seed”-Reporter mit Absicht ein wenig auf den Arm genommen hat, oder dass dieser den Ausführungen einfach nicht ganz folgen konnte, aber man muss kein Physiker – nicht mal ein Wissenschaftler – sein, um zu begreifen, dass an der Aussage “Realität entsteht durch Beobachtung” so ganz pauschal etwas nicht stimmen kann. Es ist eine simple Frage der Logik: Wenn es ohne Beobachtung keine Realität gibt, Beobachtung aber einen Beobachter voraussetzt, und der Beobachter wiederum real sein muss, um beobachten zu können – dann sind wir ahnungslosen “Seed”-Leser entweder in einem Paradoxon verpufft, oder wir sind einem Taschenspielertrick auf den Leim gegangen. Ich vermute mal Letzteres, und ich vermute auch, dass die Quantenphysiker diesen Trick leicht durchschauen, ihn aber – wie Zauberkünstler und Bühnenmagier – nicht gerne der Allgemeinheit verraten.
Der Trick scheint darin zu bestehen, zwei sprachliche Systeme – Alltagssprache einerseits, wissenschaftlich viel strenger (und manchmal eigenwilliger) definierter Fachjargon andererseits – wie eine Handvoll Spielkarten zu vermischen: Dabei werden Begriffe wie “Beobachtung” oder “Messung” quasi unterm Tisch durch “Messung oder Beobachtung in einem physikalischen Experiment” ausgetauscht, was dem Zuschauer dann plötzlich nicht nur die notwendige Präsenz eines “Beobachters” an sich, sondern viel mehr noch, die Präsenz eines Physikers, vorzuführen scheint – und ausgerechnet Schrödingers Katze hat bei diesen Verwandlungstrick mitgeholfen.
Mit seinem Gedankenexperiment hatte der österreichisch-irische Physiker Erwin Schrödinger ein Kernproblem der Quantenphysik veranschaulichen wollen, das – so weit ich das mit meinem Laienwissen kapieren kann – darin besteht, dass ein Partikel nicht nur rein statistisch verschiedene Zustände haben kann, sondern dass alle diese Zustände gleichzeitig existieren (Superposition) und lediglich durch den Vorgang des Messens in einen diskreten Zustand “kollabieren”, den wir Realität nennen.
Wenn Schrödingers gedachtes Haustier also in einen – ebenso imaginären – geschlossenen Messapparat (mit dessen technischen Details ich mich nicht weiter aufhalten will) eingesperrt würde, in dem die quantenmäßige Veränderung eines Atoms eine für die Katze tödliche Reaktion auslöst, müsste es demnach bei geschlossenem Deckel – also im unbeobachteten Zustand – gleichzeitig tot und lebendig sein; eindeutig würde, in Schrödingers Gleichnis, der Zustand erst in dem Moment, in dem der Deckel geöffnet wird und jemand hinein schaut, also “beobachtet”.
Unbehelligt davon, dass Schrödinger, so weit ich es nachlesen konnte, mit diesem paradox anmutenden Beispiel gegen die Annahme argumentierte, dass Realität erst durch Beobachtung erzeugt wird (intuitiv weiß jeder, dass die Katze nicht gleichzeitig lebendig und tot sein kann), werden die Forscher am IQOQI in “Seed” mit der Erkenntnis zitiert, dass diese “Superposition” von Zuständen sehr wohl selbst für ein Makro-Objekt wie etwa eine Katze möglich ist. In anderen Worten: Die Katze, mein Auto, der Mond – alles, was wir als Realität wahrnehmen, entsteht nur durch den Vorgang der Beobachtung, vor der Beobachtung gibt es keine Realität.
Natürlich könnte niemand ernsthaft behaupten, dass die (dem quantenmechanischen Formelwerk zu Folge) für die Erzeugung von Realität unerlässlichen Messungen die Existenz eines Physikers voraussetzen – sonst würde dies ja rückwirkend fatale Folgen für unsere Realität haben, wenn dem Forscher beispielsweise, aus welchem Grund auch immer, nachträglich das Diplom aberkannt würde. Und da andererseits Nicht-Physiker solche Messungen oder Beobachtungen nicht viel besser begreifen würden als Schrödingers Katze, darf man wohl auch behaupten, dass das “Begreifen” dieser Messungen ebenfalls keine physikalisch relevante Eigenschaft ist. Und wenn Messung ohne Begreifen funktionieren kann, dann kann letztlich jeder unbelebte Gegenstand diese Messungen “ausführen” … Man muss den Gedanken nicht lange weiter spinnen, um schließlich darauf zu kommen, dass “Messung” im Prinzip jede Interaktion eines Partikels mit einem anderen sein kann. Interaktion ist aber in unserer Welt, wenn man so sagen darf, der Dauerzustand aller Teilchen, sie sind quasi unter konstanter “Beobachtung”. Egal, ob ein Beobachter (im Sinn unserer Alltagsdefinition) hinschaut oder nicht.
Was vermutlich eh’ ein alter Hut für die Experten ist. Und falls mein Auto, wenn ich es heute Abend aus der Werkstatt abhole, plötzlich doch nicht mehr rot wäre, muss ich nicht die Quantenphysik verdächtigen, sondern erst mal die Handwerker.
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