In den letzten zwei Wochen habe ich hier in meinem Blog Artikel veröffentlicht, die von Wissenschaft handeln. Von Astronomie, Geografie, Teilchenphysik, Zeitmessung, Geophysik, etc. Es war ein kleiner Ausflug in die Vielfalt der Naturwissenschaft, aber alle Artikel hatten ein gemeinsames Thema: Die Tatsache, dass die Erde eine Sphäre ist. Und nicht etwa eine flache Scheibe, wie manche Menschen es ja anscheinend ernsthaft glauben.
Was die Artikel die ich geschrieben haben nicht waren: Ein “Widerlegung” der Behauptung, die Erde wäre eine Scheibe. Wie ich schon ganz zu Anfang geschrieben habe, halte ich das für völlig sinnlos. Natürlich kann man all die Behauptungen widerlegen, in denen “Beweise” für eine flache Erde vorgebracht werden. Aber mit ausreichend Kreativität und Ignoranz kann man sich immer einen Weg ausdenken, um die flache Erde doch noch zu “retten”. Als rein intellektuelle Aufgabe ist das sogar ganz reizvoll: Wie müsste man die Beobachtungen und Fakten interpretieren, wenn man die Existenz einer flachen Erde voraussetzt? Wie müsste eine Wissenschaft aussehen, die auf einer flachen Erde basiert? Es wäre ein völlig andere Wissenschaft die in so gut wie allen Punkten von dem abweicht, was wir in den letzten Jahrhunderten entwickelt haben. Denn Wissenschaft besteht ja nicht aus isolierten Einheiten; alles hängt miteinander zusammen. Nimmt man ein Element heraus, ändert sich alles. Die Gravitation würde auf einer flachen Erde nicht mehr so funktionieren wie wir das derzeit annehmen und damit die gesamte Physik. Die Biologie wäre anders (man muss nur an den Zusammenhang zwischen Plattentektonik und Evolution denken; an Migrationsbewegungen von Lebewesen; an Meeres- und Windströmungen, und so weiter). Die Astronomie in ihrer heutigen Form könnte man quasi komplett entsorgen; man müsste sich eine neue Chemie ausdenken (zum Beispiel um zu erklären, warum der Himmel blau ist).
Eine flache Erde würde eine komplett neue Naturwissenschaft notwendig machen (auch eine komplett neue Geschichtswissenschaft, Philosophie, etc). Was im Umkehrschluss aber auch bedeutet: Wäre die Erde wirklich eine Scheibe, dann wären sämtliche Wissenschaftler dieser Welt entweder Lügner oder schlicht und einfach komplett dumm. Und das gilt nicht nur für die Wissenschaftler der Gegenwart, sondern auch die in der Vergangenheit. Schon in der Antike wusste man, dass die Erde eine Kugel ist und die gesamte Entwicklung der modernen Naturwissenschaft basiert unter anderem darauf. Seit es Leute auf der Welt gibt, die man “Wissenschaftler” nennen kann, müssten die also den Rest der Bevölkerung die “Wahrheit” über die flache Erde vorenthalten.
Und das ist das, was ich an diesem ganzen Unsinn mit der flachen Erde am wenigsten verstehe: Warum sollte man das machen? Nehmen wir für einen Moment an, die Leute die an eine flache Erde glauben, hätten Recht. Die Erde ist wirklich eine Scheibe und sämtliche Wissenschaftler aller Zeiten (inklusive diverser Politiker, Herrscher, gebildeter Leute, kluger Autodidakten, etc) verheimlichen diese Tatsache. Warum um Himmels Willen tun sie das? Es würde sich dabei um die wahrhaft größte Verschwörung aller Zeiten handeln. Sämtliche wissenschaftlichen Erkenntnisse, quasi von Anbeginn der rationalen Menschheitsgeschichte, wären gefälscht. Jeder Mensch, der sich in den letzten Jahrtausenden für die Forschung interessiert hat, an einer Uni arbeitet, an einer Schule, und so weiter: Milliarden von Menschen also, müssten Teil der Verschwörung sein. Es wäre ungeheuer mühsam, diese Täuschung aufrecht zu erhalten. Der komplette wissenschaftliche Output der Menschheit wäre eine komplexe, kostspielige und unter großen Mühen hervorgebrachte Lüge. Wozu?
Ernsthaft: Wer profitiert davon, wenn man den Menschen vormacht, dass die Erde eine Kugel ist? Ich kann zumindest nachvollziehen, wie man andere Verschwörungstheorien motiviert. Man täuscht die Mondlandung vor, weil man die Sowjets demütigen will, technisch aber nicht in der Lage für nen Mondflug ist. Man erfindet einen Klimawandel, um Forschungsgelder aufzutreiben. Man versprüht Chemtrails, um das Klima zu manipulieren oder das Bewusstsein der Bevölkerung. Man verheimlicht die Existenz von Planet X, um eine Massenpanik zu verhindern. Und so weiter. Das ist zwar alles völliger Quatsch aber zumindest irgendwie nachvollziehbar. Aber wer hätte etwas davon, den Menschen einzureden, dass die Erde rund ist? Warum müsste die Existenz einer flachen Erde geheim gehalten werden?
Wäre die Erde flach, wäre die Vertuschung dieser Tatsache eine der kompliziertesten und mühsamsten Aufgaben der Menschheitsgeschichte. Und trotz langem Nachdenken fällt mir kein einziger auch nur annähernd plausibler Grund ein, warum man das tun sollte.
Wenn man sich anhört, was die Anhänger der Flachen Erde so erzählen, dann findet man da auch selten einen “Masterplan” wie bei anderen Verschwörungstheorien. Sondern nur ein allgemeines Unbehagen gegenüber den “Experten”, die irgendwas über die Welt erzählen. Unbehagen dagegen, sich irgendwas “einreden” zu lassen; etwas, was dem widerspricht, was man selbst über die Welt zu wissen glaubt. Und wenn man dann – aus welchen Gründen auch immer – halt sehr wenig über die Welt weiß, dann gibt es enorm viel, bei dem man den “Experten” halt einfach glauben muss. Mit dem Unbehagen gegen “die Experten” hat man sich in Großbritannien aus der EU gewählt. Mit diesem Unbehagen wurde Donald Trump Präsident der USA. Dieses Unbehagen ist weit verbreitet. Das wird sich vermutlich auch nicht so schnell ändern; ich vermute, dass dieses Unbehagen zu einem gewissen Teil zwangsläufig in uns allen steckt.
Und vor allem kriegt man das auch nicht weg, wenn man den Leuten die dieses Unbehagen verspüren, mit noch mehr Expertentum entgegen tritt. Wer der Meinung ist, er würde sowieso ständig von allen angelogen, wird nicht plötzlich sein Weltbild ändern, nur weil man mit irgendwelchen wissenschaftlichen Artikeln wedelt oder vorrechnet, wie die Gravitationskraft auf einer scheibenförmigen Erde wirken würde. Der wird sich nur noch mehr darin bestätigt sehen, dass einem die Wissenschaft irgendwas einreden will. Das einzige was man meiner Meinung nach tun kann, ist “die Experten” abzuschaffen. Und das heißt natürlich nicht, dass alle Wissenschaftler einpacken und nach Hause gehen sollen. Sondern das es wichtig ist, dem Bild entgegen zu wirken, das die Wissenschaftler immer noch in der Öffentlichkeit haben. Das Klischeebild des bebrillten Mannes (Frauen tauchen in dem Klischee ja nicht auf) im Laborkittel, der unverständliches Zeug von sich gibt, ebenso unverständliche aber potentiell gefährliche Experimente durchführt und nichts mit dem Leben der “normalen” Menschen zu tun. Man muss den Menschen klar machen, dass “Wissenschaftler” auch nur ein ganz normaler Job ist, der von ganz normalen Menschen ausgeübt wird. Und das man sich durchaus auch mit Wissenschaft beschäftigen kann, wenn man selbst kein Wissenschaftler ist. Das man die Erkenntnisse der Wissenschaft selbst nachvollziehen und verstehen kann. Vielleicht nicht immer vollständig, aber doch so weit, um selbst in der Lage sein, sich vernünftig über die Welt Gedanken zu machen.
Wenn man versteht was “die Experten” sagen und versteht das “die Experten” auch nur ganz normale Menschen sind, dann sind es nicht mehr “die Experten”. Und dann verschwindet auch das Unbehagen, das man dem entgegen bringt, das man nicht versteht. Kurz gesagt: Es braucht mehr Öffentlichkeitsarbeit. Mehr Wissensvermittlung. Und sie muss vernünftig stattfinden; auf Augenhöhe (nicht die Deklarationen per Pressemitteilung, die viel zu viele PR-Stellen der Forschungseinrichtungen immer noch produzieren). Das ist nicht einfach. Aber doch wesentlich simpler, als der Welt einzureden, die Erde wäre eine Scheibe…
Alle Artikel aus der Serie “Erdkugelgeschichten”
Einleitung: Die Erde ist nicht flach und das ist gut so
Sternengeschichten Folge 293: Al-Biruni und die Größe der Erdkugel (erscheint am 06.07.2018)
Erdkugelgeschichten 01: Das Kreuz des Südens und der Himmel auf der anderen Hälfte der Erde (erscheint am 09.07.2018)
Erdkugelgeschichten 02: Der Sonnenuntergang kommt später als man denkt (erscheint am 10.07.2018)
Erdkugelgeschichten 03: Zu groß um flach zu sein: Der Future Circular Collider und die Zukunft der Teilchenphysik (erscheint am 11.07.2018)
Erdkugelgeschichten 04: Perseiden, Sternschnuppen und Plädoyer für das frühe Aufstehen (erscheint am 12.07.2018)
Sternengeschichten Folge 294: Warum sind Planeten rund? (erscheint am 13.07.2018)
Erdkugelgeschichten 05: Terraforming Mars: Wie kriegt ein Planet ein Magnetfeld? (erscheint am 16.07.2018)
Erdkugelgeschichten 06: Mach es wie die Sonnenuhr: Zeitmessung für alle! (erscheint am 17.07.2018)
Erdkugelgeschichten 07: Der blaue Himmel, die rote Sonne und die runde Erde (erscheint am 18.07.2018)
Erdkugelgeschichten 08: Flache Erde oder Erdkugel – Wer profitiert von der Verschwörung? (erscheint am 19.07.2018)
Sternengeschichten Folge 295: Mondfinsternisse und der “Blutmond” (erscheint am 20.07.2018)
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