Es haben mich inzwischen auf den verschiedensten Kanälen so viele Anfragen zum Fall Peggy und der potentiellen DNA-Spur des NSU-Mitglieds Uwe Böhnhardt erreicht, daß ich mich genötigt sehe, hier meine Sicht der Dinge zu teilen. Im Gegensatz zu den Ermittlern in dem Fall wollte ich mich allerdings nicht der Voreiligkeit schuldig machen, wodurch sich meine Zögerlichkeit erklärt.
Kurz zur Chronologie des Falls (soweit mir bekannt):
- Juli 1993: der Drittklässler Bernd B. wird ermordet, bei der Obduktion der stark verwesten Leiche ergeben sich Hinweise auf sexuellen Mißbrauch; durch Indizien ergeben sich Hinweise auf Enrico T., der ein Mitschüler von Uwe Böhnhardt (damals 15 Jahre alt) ist und mit diesem bereits kleinere Straftaten verübt hat
- Mai 2001: Peggy verschwindet und eine gigantische Suchaktion beginnt
- August 2001: Der Gastronomensohn Ulvi K. gesteht die Tat (und andere Taten)
- April 2004: Ulvi K. wird wegen Mordes verurteilt (tritt die Strafe aber nicht an, da er in der forens. Psychiatrie wegen pädophiler Delikte einsitzt)
- November 2011: nach einem Banküberfall und Verfolgungsjagd mit der Polizei in Eisenach tötet sich Uwe Böhnhardt selbst (bzw. ließ sich von seinem Komplizen erschießen), die Leiche wird im rechtemedizinischen Institut in Jena obduziert
- April 2012: Enrico T. belastet Uwe Böhnhardt, indem er ihn mit dem Mord von Bernd B. in Verbindung bringt
- Juli 2012: Neue Ermittlungen im Fall Peggy, Suche nach der Leiche
- Dezember 2013: Wiederaufnahme des Verfahrens (wegen Unstimmigkeiten, einer widerrufenen belastenden Aussage gegen Ulvi K. und Zweifeln an einer Einschätzung des psychologischen Gutachters)
- April 2014: der Wiederaufnahmeprozess beginnt
- Mai 2014: Freispruch für Ulvi K.
- Februar 2015: Staatsanwaltschaft Bayreuth stellt Ermittlungen ein, ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wird aber aufrechterhalten
- März 2015: Entscheidung, daß Ulvi K. aus der Psychiatrie entlassen werden soll
- Juli 2016: Pilzsammler findet sterbliche Überreste eines Menschen (15 Jahre nach dem Verschwinden von Peggy)
- Juli 2016: Mitteilung von Polizei und Staatsanwaltschaft nach Ermittlungen am Fundort und rechtsmedizinischen Untersuchungen, daß die Knochen „höchstwahrscheinlich von Peggy“ stammen
- Oktober 2016: Am Fundort der Knochenteile werden auf einem Stoffetzen (ehemals Teil einer Decke?), der nahe bei den sterblichen Überresten lag, auch DNA-Spuren von Uwe Böhnhardt gefunden, wie das PP Oberfranken und die Staatsanwaltschaft Bayreuth mitteilen; die DNA-Analysen fanden im LKA München statt. Es heißt aber auch: „In welchem Zusammenhang diese DNA-Spur gesetzt wurde, wo sie entstanden ist und ob sie in Verbindung mit dem Tod von Peggy K. steht, bedarf weiterer umfassender Ermittlungen in alle Richtungen“ und daß eine Verunreinigung nicht ausgeschlossen werden könne
- Oktober 2016: Mitteilung der Polizei Bayern: „Hierbei haben sich nunmehr mögliche Anhaltspunkte dafür ergeben, dass durch die mit der Spurensicherung in beiden Fällen befasste Tatortgruppe der Polizei in Thüringen teilweise identisches Spurensicherungsgerät verwendet wurde.Eine Aussage zur Qualität der Spurensicherung und einer möglichen Kontamination kann erst nach weiteren umfassenden und zeitaufwändigen Ermittlungen getroffen werden.“. Hintergrund: BKA-Ermittlern war auf Fotos vom Fundort von Böhnhardts Leiche ein markanter Meterstab oder Zollstock aufgefallen (das war 2011, also vor 5 Jahren). Dieser sei auch auf Bildern von Peggys Fundort zu sehen. Das Messgerät sei nahezu unverwechselbar und von einer Beschaffenheit, die es “nur einmal gibt”.
Soweit der mir bekannte Stand der Dinge.
So, wie es sich im Moment für mich darstellt, gibt es drei Erklärungsmöglichkeiten für die Tatsache, daß an einem Asservat (ein Stück einer Decke?) aus der Nähe des Fundorts von Peggys sterblichen Überresten die DNA von Uwe Böhnhardt festgestellt wurde.
- Zufall. Böhnhardt hat zufällig am oder in der Nähe des Fundorts der Leiche ein Picknick o.ä. veranstaltet, ohne zu wissen, was dort ist, und die Decke, auf der sich seine DNA befand, dort liegengelassen. Voraussetzungen: Konzession eines bemerkenswerten Zufalls; außerdem muß Böhnhardts DNA auf dem Stoffstück mindestens 5 Jahre in einer umweltausgesetzten Umgebung (schwankende Temperaturen, Regen, Schnee, UV-Licht, Luftfeuchtigkeit, Mikroorganismen, Insekten) überdauert und einen Zustand bewahrt haben, der die Erstellung eines Profils erlaubt, das noch zur forensischen Identifikation taugt.
- Kontamination. Der gleiche Meterstab, der am Fundort von Böhnhardts Leiche zu deren Vermessung und Dokumentation verwendet und dabei mit zellulärem Material des Toten kontaminiert wurde, wurde auch 5 Jahre später am Fundort der sterblichen Überreste von Peggy eingesetzt, um das Stoffstück, das in der Nähe gefunden worden war, zu vermessen. Dabei gerieten noch darauf befindliche Zellen Böhnhardts auf das Asservat (man spricht hier von Sekundärtransfer). Voraussetzungen: es muß sich wirklich um denselben Meterstab gehandelt haben (d.h., das Verfahren, welches das BKA verwendet hat, um anhand eines Photos die Identität des Meterstabs festzustellen, muß gültig sein), welcher nach dem Einsatz am Sterbeort Böhnhardts zudem nicht gereinigt und hernach 5 Jahre an einem trockenen, dunklen Ort aufbewahrt wurde, wo sich DNA aus einem Primärtransfer hätte halten können, um dann für den Einsatz am Fundort von Peggys Überresten, aber nicht vorher, wieder verwendet zu werden.
- Tatbezug. Böhnhardt hatte etwas mit Peggys Verschwinden, Tod oder der Entsorgung des Leichnams zu tun und hat sich deshalb tatsächlich am oder in der Nähe des Fundorts aufgehalten und dort seine DNA auf einer liegengelassenen Decke o.ä. hinterlassen. Voraussetzungen: Konzession, daß es zwischen Böhnhardt und Peggy tatsächlich einen Zusammenhang gibt, außerdem muß Böhnhardts DNA auf dem Stoffstück 15 Jahre in einer umweltausgesetzten Umgebung (schwankende Temperaturen, Regen, Schnee, UV-Licht, Luftfeuchtigkeit, Mikroorganismen, Insekten) überdauert und dabei einen Zustand bewahrt haben, der die Erstellung eines Profils erlaubt, das noch zur forensischen Identifikation taugt.
Es ist mir nicht möglich, insbesondere ohne die Elektropherogramme (EPG) der Asservate und sonstige Details der Laboruntersuchungen zu kennen, belastbare Aussagen über die Wahrscheinlichkeiten der drei Erklärungsansätze zu machen, ich gebe allerdings zu, daß ich sie alle drei recht unwahrscheinlich finde. DNA ist zwar durchaus ein stabiles Molekül, doch ich bezweifle, daß sich DNA, selbst wenn es sich bei der Spur nicht um einen bloßen Hautabrieb sondern um Blut oder Sekret gehandelt hat, 5 oder gar 15 Jahre auf einem umweltausgesetzten Stoffstück im Wald gehalten haben kann.
Andererseits halte ich es für ziemlich unwahrscheinlich, daß ein Meterstab, der kein Wegwerf-Instrument ist und offenbar einen extrem hohen Wiedererkennungswert besitzt, in einem strengen Standards unterworfenen LKA nicht gereinigt worden und dann ausgerechnet 5 Jahre später (aber nicht früher) wieder zum Einsatz gekommen sein soll. Wäre er vorher zum Einsatz gekommen, wäre ja womöglich vorher schon ein Phantom-Böhnhardt an einem völlig anderen Tatort aufgetaucht. Hinzukommt, daß der Meterstab vor dem Einsatz bei Böhnhardts Leiche sehr wohl gereinigt worden sein muß, sonst hätte man ja ein Mischprofil erhalten. Wurde das Reinigen also zufällig ausgerechnet nach dem Böhnhardt-Fund vergessen? Außerdem sind DNA-Profile nach einem Sekundärtransfer, wie er für das Kontaminationsszenario angenommen werden muß, notorisch schwach und häufig unvollständig, so daß es zumindest fragwürdig erscheint, daß Böhnhardt aus einer solchen Spur eindeutig identifiziert worden sein soll. Den letzten Punkt könnte ich, wie erwähnt, besser beurteilen, wenn ich das EPG sehen könnte.
Es gibt vielleicht noch eine vierte Erklärung: bei der DNA auf dem Stoffstück handelt es sich gar nicht um die DNA von Böhnhardt. Die Feststellung, daß es sich um Böhnhardts DNA handelt, kann nur auf Grundlage des Vergleichs zweier DNA-Profile und der Berechnung der Wahrscheinlichkeit für eine nichtzufällige Übereinstimmung erfolgt sein. Böhnhardts DNA-Profil ist wahrscheinlich in der DAD gespeichert und bei Einstellung des DNA-Profils von dem Stoffetzen in die DAD wird sich eine (teilweise) Übereinstimmung mit jenem Profil ergeben haben, die dann aufgefallen ist. Die Frage ist nun: wie groß war die Übereinstimmung, d.h. wieviele STR-Systeme stimmten tatsächlich überein? Es ist ja nicht unwahrscheinlich, daß das Profil vom Stoffetzen unvollständig war, außerdem muß bei Berechnung der Wahrscheinlichkeit von Datenbanktreffern die Datenbankgröße einbezogen werden. Wurde das gemacht? Und wie groß war laut Berechnung die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Übereinstimmung? Dies wurde im Bericht nicht erwähnt. Vielleicht ist sie ja sogar größer als die Wahrscheinlichkeit der anderen drei Erklärungsansätze…
Ich hoffe, es wird bald eine Aufklärung der Sache geben. Sicher war man zu voreilig mit der Verkündung derartiger Ermittlungsbefunde, die überaus erklärungsbedürftig und bekanntlich äußerst anfällig für vergröbernde sensationalistische Berichterstattung sind.
Abschließend möchte ich noch betonen, daß die ganze Angelegenheit, wie schon beim Phantom von Heilbronn, keineswegs die Gültigkeit oder Bedeutung von DNA-Profilen in Frage stellt. Außerdem hat der BGH 2012 auch noch einmal betont, daß DNA-Befunde niemals allein und als einziges Indiz zur Beurteilung einer Tat verwendet werden dürfen. Mittels DNA-Analytik wird nur nachgewiesen, was da ist, nicht, wie es dort hin gekommen ist. Und gerade weil das Verfahren so empfindlich ist, ist es so anfällig für Kontamination. Wie man diese vermeidet, sollte allerdings jedem, der sich in der Nähe eines Tatorts oder in einem forensischen Labor aufhalten darf, bekannt sein.
###Update am 09.03.2017: Laut Aussage der Staatsanwaltschaft Bayreuth sei inzwischen klar, daß das Textilfragment, an dem Böhnhardts DNA nachgewiesen wurde, von dessen Kopfhörer stammte, der an seinem Versterbeort sichergestellt worden war. An den Leichenfundort von Peggy sei das Stück versehentlich also kontaminant “durch Polizeigerät” (den Meterstab?) transportiert worden. Schuld an dieser Kontamination habe das LKA Thüringen, die damals am Versterbeort Böhnhardts ermittelt und Spuren gesichert hatten. Es muß also das zwar kleine (12 x 4 mm) aber doch mit bloßem Auge sichtbare Gewebefragment an einer dort eingesetzten Gerätschaft (dem Meterstab) haften geblieben sein und dann fünf Jahre später, am 3. Juli 2016 an den Fundort der sterblichen Überreste Peggys übertragen worden sein. Die meisten der unwahrscheinlichen oder aber besorgniserregenden Annahmen hinsichtlich von Maßnahmen zur Dekontamination von Spurensicherungs- bzw. vermessungsgerätschaften aus dem obigen Szenario 2 müßten also dennoch zutreffen.
Wenn es sich wirklich so zugetragen hat, spricht das für sehr bedenkliche Zustände im genannten LKA, da die Befolgung normkonformer (DIN/ISO 17025) Prozesse, Abläufe und Vorsichtsmaßnahmen insbesondere im forensischen Bereich einen derart groben Fehler ausschließen.
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