Ich hatte letzten Oktober von einem Auftrag des 1. Untersuchungsausschusses der 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestags berichtet, der zwei Kollegen und mir erteilt wurde. Ich war beauftragt worden, das DNA-Spurenbild nach dem Terroranschlag am 19.12.2016 auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin, wie es sich in der Akte darstellt, zu untersuchen und hinsichtlich der Frage, ob es mit dem geschilderten Geschehensablauf vereinbar sei, gutachterlich Stellung nehmen.
Nach viel Arbeit und der Lektüre wirklich ungezählter Aktenseiten, langen Stunden Literaturrecherche, EPG-Nachanalysen und biostatistischer Berechnungen, wobei mich meine Doktorandin Annica Gosch tatkräftig unterstützt hat, habe ich mein Gutachten Anfang März dem Untersuchungsausschuß (UA) vorlegen können. Die sensationalistische Berichterstattung ließ leider nicht lange auf sich warten.
Ich hatte in einem Nachtrag zum oben verlinkten Artikel auch angekündigt, daß es am 25.3.2021 eine Anhörung durch den Untersuchungsausschuß geben sollte. Diese hat gestern stattgefunden und fünfeinhalb Stunden lang haben wir, die anderen Sachverständigen und zwei weitere Zeugen den Ausschußmitgliedern Rede und Antwort gestanden. Wir aus Kiel (Rechtsmedizin und LKA) waren per Videokonferenz zugeschaltet.
Auf der Website des Bundestags gibt es eine Zusammenfassung, die ganz gut ist, hier ist noch eine andere. Allerdings ist dort die Diskussion zur möglichen Tatwaffe ausgelassen (Punkt 5 in der folgenden Liste), die ebenfalls in der Anhörung gestern lebhaft geführt wurde. Nach meiner Einschätzung sind die wesentlichen Befunde meines Gutachtens die folgenden:
- Das DNA-Spurenbild ist grundsätzlich vereinbar mit der Auffassung vom Geschehensablauf, wie er von den Sicherheitsbehörden vermittelt wird; es läßt jedoch auch andere Interpretationen zu; Grund hierfür ist v.a. die sehr schwache Repräsentation Amris im DNA-Spurenbild
- Amri und die unbekannte Person 2 (UP2) haben in vergleichbarem (geringem) Ausmaß DNA an relevanten Stellen im Lkw hinterlassen. Aus der DNA-Sicht allein läßt sich daher weder Amris noch UP2s Fahrer- oder Beifahrereigenschaft belegen oder widerlegen.
- Die Identität der UP2 ist bis heute unbekannt, sie kann aber eine berechtigte Person (Retter, Berger, Speditionsfahrer) gewesen sein, dies wäre auch nachträglich untersuchbar.
- Es ist festzuhalten, daß von Amri wenig Spuren vorhanden sind, dafür, was er im Lkw gemacht haben soll, Grund hierfür ist wahrscheinlich aber nicht eine unzureichende Spurensicherung. Die Tatortintegrität war zum Zeitpunkt der Spurensicherung nicht mehr gegeben (u.a. durch die Bergung des 130 kg schweren getöteten Lastwagenfahrers, für die die Mitwirkung mehrerer Personen nötig war)
- Die Pistole, die beim getöteten Amri sichergestellt worden war, ist nicht nachgewiesenermaßen die Tatwaffe. Molekularballistische Untersuchungen innerer Flächen wurden daran nicht durchgeführt, die DNA des getöteten LKW-Fahrers daran läßt sich auch durch indirekten Transfer erklären. Eine molekularballistische Untersuchung der Waffe wäre auch nachträglich durchführbar und sinnvoll, da sie noch immer den Beweis erbringen könnte, daß die Waffe Amris auch die Tatwaffe war.
(wer mit diesen Angaben nichts anfangen kann, erlese sich gerne die Hintergründe zum Attentat in den oben gesetzten Links)
Um weiterer verfälschender Berichterstattung vorzubeugen, zitiere ich noch zwei Disclaimer, die ich, solche antizipierend, extra in mein Gutachten mit aufgenommen hatte:
es wird in diesem Gutachten lediglich und ausschließlich bezugnehmend auf DNA-Spuren und deren Interpretation betreffende Aspekte Stellung genommen.
und
Hinsichtlich der DNA-Spurenlage allein ist […] der geschilderte Geschehensablauf nicht zwingend die einzig mögliche Erklärung für die hier vorliegenden Befunde, alternative Szenarien zur Entstehung des Spurenbildes sind mithin nicht ausschließbar. Hier ist jedoch unbedingt zu beachten, daß die Auffassung der Sicherheitsbehörden über die Geschehensabläufe und insbesondere die Rollen/Funktionen beteiligter Person darin/daran, sich hiesigen Erkenntnissen zufolge auf viele weitere, über das DNA-Spurenbild hinausgehende Befunde, Indizien und Ermittlungsergebnisse, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Auswertung der Mobiltelephon- und daraus abgeleiteten Bewegungsdaten des Amri, gründet. Ob und in welchem Umfang das DNA-Spurenbild von den Sicherheitsbehörden in deren Hypothesenbildung eingeflossen ist und gewichtet wurde, kann von hier aus nicht beurteilt werden. (Hervorhebungen im Original)
Um den nötigen Kontext für die Diskussion DNA-Transfer voraussetzender Hypothesen zu schaffen, habe ich in einem Einleitungsteil des Gutachtens auch die Grundlagen zum DNA-Transfer erläutert, diese sind auch hier noch einmal nachzulesen. Mehr will ich aber hier gar nicht schreiben, denn unsere drei Gutachten sind nun online vollständig verfügbar, hier ist meins.
Wer lieber hört statt zu lesen: hier gibt es einen Podcast, der sich ausschließlich mit dem UA befaßt (hier geht es zu der Folge über unsere Anhörung (man hat uns sogar gezeichnet ;)).
Für mich war das Ganze eine interessante und wichtige Erfahrung. Der Auftrag, die Recherche, der Kampf mit einer schier endlosen Flut an Daten, Akten und Dokumenten (es wurde extra eine TB-Festplatte von Berlin hierher expediert) und auch die Anhörung gestern. Da hatte ich noch einmal Gelegenheit, mein Gutachten darzustellen und zu erläutern und war erfreut über die Akribie und Detailtiefe, mit der sich einige derer, die mir Fragen gestellt haben, damit befasst hatten. Auch die offene und durchaus intensive Diskussion zwischen Politikern und den Zeugen von Bundesanwaltschaft und BKA war spannend, mitzuverfolgen. Es ging nicht nur um die Plausibilität alternativer Hypothesen, denen zufolge bspw. nicht Amri der Haupttäter war, sowie um etwaige Versäumnisse und Fehler bei der Tatort- und Nachtatarbeit, die einige der Ausschußmitglieder verwirklicht sahen, sondern auch darum, aus dem Geschehenen zu lernen und Empfehlungen für künftige Verbesserungen zu formulieren, die sich dann im Abschlußbericht des UA finden werden. Wir hatten durch unsere Mitarbeit und unsere Eingaben bei der Anhörung also die Chance, ein wenig zu einer Veränderung zum Positiven beizutragen. Das hat uns sehr gefreut.
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