Was immer über den Absturz des USAirways-Airbus vergangene Woche in New York geschrieben wurde – früher oder später (zumeist früher, nämlich in den Schlagzeilen) tauchte der Begriff vom “Wunder” auf. Ich muss da auf niemanden weiter deuten als auf mich selbst, denn der Artikel, den ich für FOCUS Online geschrieben hatte (kein Link hier wg. Eigenwerbung), sprach ebenfalls schon in der Überschrift vom “Wunder vom Hudson”.
Was natürlich kein Wunder ist, denn erstens mal sind wird so sehr an schlechte Nachrichten gewöhnt, vor allem im Zusammenhang mit Luftfahrt-Unglücken, dass wir uns schon gewaltig wundern müssen, wenn ein Absturz ohne Todesopfer oder nennenswert Verletzte abläuft. Zweitens ist “Wunder” ein sehr beliebter Begriff in den Medien (“Wunder von Lengede”, “Wunder von Bern”, Wirtschaftswunder …). Aber drittens, und dem will ich mal ein paar Gedanken mehr widmen, sind Wunder

nach den bekannten Gesetzen der Natur und des Weltlaufs unerklärlich scheinende Ereignisse, die deshalb auf ein unmittelbares Eingreifen der Gottheit in den Naturlauf zurückgeführt werden

wie es der Brockhaus erklärt. Wunder sind also all das, was Wissenschaft nicht ist. So weit, so wundersam …

Wenn man zumindest den ersten Teil dieser Brockhaus-Definition akzeptiert, dann hat dieser glimpfliche Absturz in der Tat das Zeugs für ein “Wunder” – einfach deswegen, weil er nur durch ein wissenschaftlich nicht erklärbares (weil Wissenschaft nicht für solche Erklärungen zuständig ist) Zusammenspiel mehrerer distinkter Faktoren möglich wurde:

  • ein höchst kompetenter Pilot (Chesley Sullenberger hat inzwischen sogar seinen eigenen Wikipedia-Eintrag);
  • die Nähe zum Hudson, als der Vogelschlag die Triebwerke lahm legte; die Tatsache, dass der Hudson trotz einer Rekordkälte noch eisfrei war;
  • der Umstand, dass trotz der unvermeidlichen (und vermutlich unkalkulierbaren) Turbulenzen, Strömungseffekte etc. die Maschine bei der Wasserung stabil blieb und intakt an der Oberfläche treiben konnte;
  • die Nähe der Absturzstelle zu den Anliegern der Hudson-Fähre und der Ausflugs-Linie Circle Line, die in Minutenschnelle ausreichende Schiffskapazitäten zur Bergung der 155 Insassen aus dem eiskalten Hudson bereitstellen konnten
  • dass der Absturz bei Tageslicht geschah.

Das “Wunder” dabei besteht natürlich nicht in einem oder mehreren dieser Faktoren an sich: Es ist der Umstand, dass sie alle (und vermutlich noch einige mehr – wie etwa den Vogelschlag selbst, ohne den dies wohl ein ansonsten eher ereignisloser Flug von New York nach North Carolina gewesen wäre) zusammen gegeben sein mussten. Hätte auch nur ein einziger davon gefehlt, würde man heute vermutlich von der “Katastrophe im Hudson” reden müssen …

Für einen rational denkenden Menschen ist das Wort “Wunder” natürlich ein Reizwort , da es vor allem in unserer christlich geprägten Kultur fast zwangsläufig die Hand Gottes ins Spiel bringt. Aber es ist ja nicht wirklich das Göttliche dabei, das uns “wundern” lässt, sondern vor allem erst mal die Tatsache, dass wir uns so etwas einfach nicht (oder nicht einfach) vorstellen oder erklären können. Und dagegen ist man wohl selbst nach einer intensiven akademischen Schulung nicht gefeit.

Seit ein paar Tagen geht mir dies nun im Kopf herum: Was ist das eigentlich “wunder”same bei diesem – und ähnlich unwahrscheinlichen – Begebenheiten? Weil sie so unwahrscheinlich sind, dachte ich zuerst, und weil wir mit unserem letztlich doch noch weitgehend steinzeitlichen Jäger- und Sammlerhirn gar nicht glauben können, dass so unwahrscheinliche Ereignisse wirklich eintreten könnten. Damit hätte ich mich beinahe schon zufrieden gegeben, doch störender Weise drängte sich mir dann die Frage auf, warum dann so viele Menschen Lotto spielen. Wo das doch voraussetzt, dass sie das Eintreffen eines extrem unwahrscheinlichen Ereignisses für etwas sehr real Mögliches – also das exakte Gegenteil eines Wunders – halten.

Mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen, scheint wirklich nicht die Stärke unseres Gehirns zu sein. Dass man etwa mit der gleichen Wahrscheinlichkeit sechs Mal hintereinander eine Sechs würfeln kann wie jede andere Abfolge der Zahlen von eins bis sechs, ist schwer begreifbar. Das Ziegenproblem bringt auch ansonsten helle Köpfe ins Grübeln, gerade wenn sie die richtige Antwort erfahren. Und wie soll man die Wahrscheinlichkeit erklären, dass zwei Menschen, die am gleichen Ort geboren wurden, sich aber einander nie begegnet sind, Jahrzehnte später und mehrere Tausend Kilometer entfernt, auf der anderen Seite der Welt, für eine Nacht ein Krankenhaus-Zimmer teilen müssen? *

Kann es sein, dass all dies weniger damit zu tun hat, wie schlecht wir uns Wahrscheinlichkeiten ausmalen können, sondern viel mehr damit, dass wir bestimmten Ereignissen eine Bedeutung zumessen, die andere nicht haben können? Sechs mal die Sechs in einer Folge scheint uns beim Würfeln etwas “sagen” zu wollen, was 3-1-3-6-4-2 vielleicht nie könnte. Wenn “meine” Zahlen im Lotto gezogen werden, dann deswegen, weil es “meine” Zahlen waren – alle 13.983.815 übrigen Kombinationen haben für mich keine Bedeutung. Täglich gibt es vermutlich Hunderttausende von Flugpassagieren, die eine Maschine verpassen oder ihren Flug umbuchen – sollte diese ursprünglich geplante Maschine abstürzen, dann sind sie “durch ein Wunder” gerettet worden.

Wunder sind also nicht durch die Ereignisse selbst zu begreifen, sondern nur durch die Tatsache, dass wir uns wundern, weil wir in dem Ereignis eine tiefere Bedeutung sehen als in all den anderen, zufälligen Begebenheiten, die sich rings um uns her ereignen. Wenn Sulley Sullenberger seine Maschine mit Triebwerkschaden dank seiner unverändert vorhandenen professionellen Fähigkeuten heil auf einem nahegelegen Flugplatz runtergebracht hätte, würde zwar jeder die Geschicklichkeit des Piloten zu recht loben – von einem “Wunder” spräche hingegen niemand. Was dann auch wieder kein Wunder wäre …

* Dies ist mir passiert: Ich musste in meinen bisher einzigen Klinikaufenthalt in New York das Zimmer mit einem damals 86-jährigen Violinisten der New Yorker Philharmonie teilen, der ebenso wie ich in Schweinfurt geboren war, wie sich im Laufe des Gesprächs heraus stellte

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Kommentare (5)

  1. #1 Sven Türpe
    20. Januar 2009

    Vielleicht spricht auch so niemand von einem Wunder — mit Ausnahme einer Handvoll Journalisten. Und die wundern sich nicht wirklich, sondern sie rufen einen tausendfach gebrauchten Textbaustein ab, ohne lange darüber nachzudenken.

  2. #2 Simchen
    20. Januar 2009

    Als ich einmal über das Gleiche Problem nachsann, kam ich auf die gleiche Lösung. Menschen halten manche Dinge einfach für bemerkenswerter und messen dem Geschehen dann einfach mehr Bedeutung bei als es verdient hätte.

    Wie wahrscheinlich ist es, dass wenn ich zum Bäcker gehe um mir eine Brezel zu holen, ich eine Minute an der Ampel stehe, während 10 Autos, mit der und der Farbe und diesem und jenem Kennzeichen vorbeifahren. Dann komm ich schließlich zum Bäcker und es gibt keine Brezeln. Jede hinreichend große Ansammlung von Ereignissen an jedem Tag unseres Lebens kann als vollkommen unwahrscheinlich gelten aber sie sind eben nicht bemerkenswert genug. Und eine Welt ohne bemerkenswerte Vorkommnisse? Na DAS wäre doch mal bemerkenswert.

    Dawkins hat übrigens in seinem Buch “Der entzauberte Regenbogen” ein ganzes Kapitel diesem Thema gewidmet. Das wäre mein Lesetipp.

    Als letztes bleibt mir nur noch den großen Philosophen Didactylos zu zitieren:

    “things just happen. what the hell”

  3. #3 florian
    20. Januar 2009

    Ein Punkt fehlt noch bei der Definition: als Wunder werden nur unwahrscheinliche Dinge bezeichnet, die irgendwie positiv sind. Ein Flugzeugabsturz (mit Toten und Verletzten) ist ja auch sehr unwahrscheinlich. Da müssen auch viele verschiedene Faktoren zusammenspielen, damit so ein Unglück geschehen kann. Aber da spricht dann natürlich niemand von nem Wunder (obwohls rein formal das selbe ist).

  4. #4 Jürgen Schönstein
    20. Januar 2009

    @Florian
    Klar doch. Hatte ich nur vergessen, ausdrücklich zu erwähnen. Ein als negativ bewertetes Ereignis wird natürlich nicht “Wunder” genannt, sondern je nach Einstellung “Schicksalsschlag” oder “Zorn der Götter” oder “Strafe Gottes” … Und wenn das Flugzeug, das abstürzt, voller Diktatoren und Kriegsverbecher wäre, würden wir den Tod aller als “Wunder” feiern, während ihr “wundersames” Überleben der “Schicksalsschlag” wäre. Entscheidend ist, dass wir solchen Ereignissen, die an sich nichts weiter sind als die Konsequenzen von rational beschreibbaren Faktoren einerseits und in sich wertneutral/unspezifischen Zufällen andererseits, eine Bedeutung, einen tieferen Sinn, zuschreiben. Aber diese Bedeutung ist eben keine Eigenschaft des Vorgangs an sich, sondern lediglich eine Form der Wahrnehmung, die wiederum von unseren Wertsystemen geprägt ist.
    Und das ist etwas, was selbst Wissenschaftlern nicht ganz fremd sein dürfte. Ich habe natürlich jetzt keine Belege zur Hand, aber ich denke, dass man auch als gewissenhafter Forscher leicht in die Falle tappt, jene Fakten im “Rauschen” der Datenfülle als bedeutsamer, relevanter zu empfinden, die die eigene Theorie bestätigen könnten. Die Gefahr, dass man “sieht”, was man hofft und erwartet zu sehen, ist immer vorhanden. Genau deswegen ist ja das Postulat der Falsifizierbarkeit für die Wissenschaft so wichtig – weil es zwingt, nicht nach dem zu suchen, was die eigene Theorie bestätigt (das “Signal”, wenn man so will), sondern zu zwingen, das “Rauschen” darauf abzuhorchen, ob es nicht ebenso sinnvoll Scheinendes verbergen könnte.

  5. #5 Jürgen Schönstein
    20. Januar 2009

    @Sven Türpe
    Naja, dass Journalisten sehr schnell mit dem Begriff “Wunder” zur Hand sind, habe ich ja selbst schon eingeräumt. Aber in diesem Fall waren es nicht nur die Schlagzeilendichter: Es war der New Yorker Gouverneuer David Paterson, der den Begriff vom “Wunder auf dem Hudson” – “MIracle on the Hudson” – in seiner Presseerklärung prägte.