Als Mann, der tief in die abendländische Kultur integriert ist, kann ich zwar noch nicht einmal ansatzweise nachvollziehen, was durch die Köpfe von Eltern gehen könnte, die die Genitalien ihre Töchter in dem Glauben verstümmeln lassen, dass dies zu ihrem Besten geschehe. (Meine Frau und ich hatten nach der Geburt unserers Sohnes auch ziemlich deutlich gemacht, dass wir niemanden mit einem Skalpell an die Vorhaut des Babys ranlassen werden – eine Prozedur, die in den USA jedenfalls ganz unabhängig von konfessioneller Zugehörigkeit bereits routinemäßig praktiziert wird.) Aber unabhängig von meiner Vorstellungskraft wird dies, laut einem Bericht der bioethischen Kommission der American Academy of Pediatrics (AAP), der im Journal Pediatrics veröffentlicht wurde, alljährlich an vier bis fünf Millionen Mädchen praktiziert, zumeist in Afrika, dem nahen Osten und Teilen Asiens. (Den vollständigen Bericht kann man hier oder hier abrufen.)

Und was hat das mit Placebos zu tun? Nun, in einem Einwanderungsland wie den USA (und sicher auch in weiten Teilen Westeuropas) stehen die Kinderärzte mehr als nur selten vor dem Dilemma, dass sie von Eltern ersucht werden, diesen rituellen “Eingriff” unter sterilen Bedingungen und unter Anästhesie an ihren Töchtern vorzunehmen. Was aus der Sicht dieser Eltern schon fast wie Aufgeschlossenheit gelten muss, denn immerhin wollen sie ihre Kinder vor den Rasierklingen/Glasscherben/Küchenmessern etc. der traditionellen “Beschneider” in ihren Heimatländern bewahren. Doch in den USA ist, wie auch in Schweden, Norwegen, Großbritannien und Australien, jegliches medizinisch nicht gerechtfertigte Herumschneiden an Mädchen-Genitailen kategorisch und strafrechtlich verboten.

So sollte es ja eigentlich auch sein. Doch der Haken ist, dass viele dieser Eltern, die sich nicht aus den traditionellen Zwangsvorstellungen ihrer Heimat befreien können, die Kinder dann entweder zur “Beschneidung” (die AAP ersucht ihre Mitglieder und die Öffentlichkeit, das Wort “Verstümmelung” zu vermeiden, weil er “ein Reizwort ist, das dazu tendiert, die Kommunikation vorzeitig zu beenden und der die Erfahrungen vieler Frauen, deren Genitalien verändert wurden und die sich selbst nicht als ‘verstümmelt’ empfinden, nicht respektiert”) in die Heimatländer zu verschicken, oder sie von einem “Engelmacher” illegal hier durchführen zu lassen. In beiden Fällen drohen den Kindern ernst- und dauerhafte körperliche und psychische Schäden. Was soll man als verantwortungsbewusster Kinderarzt also tun?

Hier kommt nun das “Placebo” ins Spiel: Ohne sich eindeutig dafür auszusprechen (in den offiziellen Empfehlungen am Ende des Berichts ist nur von Aufklärung und Vermeidung die Rede) wirbt die Pediatric Association in dem Beitrag dafür, die inoffiziell bereits geübte Praxis eines “rituellen Einschnitts” in die Klitoris-Vorhaut – der hier mit dem Durchstechen der Ohrläppchen verglichen wird – zu sanktionieren, die das rituelle und kulturelle Bedürfnis der Eltern befriedige, ohne dem Kind ernsthaft zu schaden. Doch das Gesetz stellt jeglichen Einschnitt unter Strafe, egal wie tief und temporär. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hält sich zu dem Thema bedeckt, doch die amerikanischen Kinderärzte empfehlen, “es könnte besser sein, wenn Bundes- und Ländergesetze den Kinderärzten die Möglichkeit gäben, den Familien die Hand zu reichen, indem sie rituelle Einschnitte als einen möglichen Kompromiss zur Vermeidung größeren Schadens anbieten.”

Letztlich wäre solch ein Eingriff einem Placebo vergleichbar: Wie das Placebo enthält er nichts, was Schaden anrichten kann oder anhaltende Veränderungen bewirkt, und wie das Placebo gibt er den Patienten das Gefühl, dass ihnen geholfen wurde.

Der Vergleich – der so übrigens nicht in dem Paper steht, sondern von mir hier zur Illustration gezogen wird – hat natürlich seine Grenzen (medizinischen Normalfalll ist die Behandlung, die durch das Placebo simuliert wird, ethisch und medizinisch akzeptabel – hier jedoch nicht). Zudem kann dieser Eingriff, wie in dem Artikel beschrieben wird, im Gegensatz zu einem ansonsten nebenwirkungsfreien Placeobo auf lange Sicht durchaus unerwünschte Folgen haben: Letztlich wird damit die ziemlich abscheuliche Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung (ich bleib’ mal bei dem Begriff, auch wenn ihn die AAP als politisch inkorrekt ablehnt) eher noch perpetuiert, da sie in ihrer kulturellen “Rechtfertigung” unangefochten bleibt. Aus diesem Grund sind vor allem die Verstümmelungsgegner in afrikanischen Länden gegen eine solche Kompromisslösung. Andererseits würde man sich gerne vorstellen wollen, dass dadurch die Tradition – die vor allem in Somalia und dem Sudan in einem grausamen Ausmaß betrieben wird – nach und nach zur Formalität, zur rituellen “Geste” abgemildert wird.

Zum Glück muss ich nicht entscheiden, welche der beiden Positionen ich vorziehen würde. Aber vielleicht wäre es schon ein hilfreicher Ansatz, wenn man (wie die AAP zu empfehlen scheint, auch wenn sie es am Ende nicht mehr so deutlich sagen will) den Ärzten wenigstens die Entscheidungsfreiheit lässt, den Eltern ein kleines Stück entgegen zu kommen, wenn dadurch das Kind vor einem echten und dauerhaften Schaden bewahrt werden kann.

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Kommentare (12)

  1. #1 Pete
    8. Mai 2010

    Danke für den Beitrag, nur kann man eine Beschneidung des Mannes nicht mit der von Frauen vergleichen. Habe auch einen Freund welcher aus rein medizinischen Grund beschnitten wurde.
    Hier wird auch gerne argumentiert das die Trockenlegung einer Schleimhaut nur Vorteile bringt.

    Will aber nicht vom eigentlichen Placebo-Schnitt für Frauen ablenken.

  2. #2 Hagen
    8. Mai 2010

    Den Vergleich mit der Beschneidung bei Jungen finde ich unpassend. Ich glaube zwar, dass dieser Eingriff in fast allen Fällen unnötig ist (auch eine verengte Vorhaut lässt sich mit medizinischen Salben weiten). Aber im Prinzip hat der Mann dadurch keine wirklichen bleibenden Schäden. Die Frau dagegen schon: sie kann danach keine Lust mehr beim Sex empfinden, sondern nur noch Schmerzen.

    Ob ich diesen “Placebo-Schnitt” jetzt gut finden soll oder nicht, das weiß ich auch nicht. Ich glaube aber, dass Aufklärungskampagnen langfristig besser angebracht wären. Doch mit Aufklärung hat man es in den USA ja nicht so, glaube ich.

    Ein bisschen erinnert mich das auch an die vielen muslimischen Frauen, die sich vor der Heirat ihr Jungfernhäutchen wieder zunähen lassen.

  3. #3 KommentarAbo
    8. Mai 2010

  4. #4 martin k
    8. Mai 2010

    “Danke für den Beitrag, nur kann man eine Beschneidung des Mannes nicht mit der von Frauen vergleichen.”

    Warum nicht? In beiden Fällen wird ein medizinisch nicht gerechtfertigter Eingriff an einem Säugling durchgeführt, der nicht wieder gutzumachende Schäden hinterlässt. Wenn ich mich mit 18 Jahren für eine vorhautfreies Leben entscheide ist das kein Problem. Ich gehe zum arzt und lasse sie mir Abschnibbeln. Nur Wie mache ich das andersrum? Ich kann einen einmal beschnittenen Penis nicht wieder ganz machen. Oh und die Frage ob eine Vorhaut nun eine Lappalie (sorry) ist oder nicht möge man bitte dem volljährigen Besitzer überlassen.

    Nur weil es bei Frauen viel schlimmere Folgen hat ist es nicht gleich bei Männern problemlos oder sollte legal bleiben.

  5. #5 MiBa
    8. Mai 2010

    In erster Linie ist positiv zu erwähnen, dass darüber nachgedacht wurde größeren Schaden durch eine illegale “Operation” zu vermeiden, wenngleich dies in meinen Augen keine Lösung ist.
    Erwähnenswert an dieser Stelle ist sicherlich die Organisation TARGET ( https://www.target-human-rights.de/ ) welche unter anderem von Rüdiger Nehberg ( https://www.ruediger-nehberg.de/ ) gegründet wurde und sich zum Ziel gesetzt hat die weibliche Genitalverstümmelung zu beenden.

  6. #6 Menel
    9. Mai 2010

    @Hagen Soweit ist weis gibt es 2 verschiedene Beschneidungen bei Frauen. Wobei nur die schwerere Form zu schmerzen/ Lustverlust führt.

    Ich denke auch, dass es das vernünftigste wäre den Arzt entscheiden zu lassen, damit er im Einzelfall abwägen kann.
    Wenn er z.B. sieht, dass die Eltern ohne ihn die Beschneidung auf jeden Fall vornehemen werden, sollte er lieber seine sanfte Methode durchführen dürfen.

    Menel

  7. #7 Andre
    9. Mai 2010

    Die Verstümmelung von männlichen Babys ist selbstverständlich genauso anzuprangern. Kinder haben ein Recht auf Unversehrheit
    und es spielt überhaupt keine Rolle, ob durch die Rumschnippelei
    gesundheitliche Schäden entstehen oder “nur” die Optik
    beeinträchtugt ist.

    Genausogut könnte man den Kindern Teile der Ohren abschneiden.
    Oder irgendeine Schönheitsoperation an ihnen vornehmen. Oder sie
    mit lustigen Bibelgeschichten tätowieren.

    Im Übrigen gibts eine einfache Lösung für Eingewanderte (und
    natürlich auch Einheimische): Verpflichtende Untersuchungen
    beim Kinderarzt.

  8. #8 Minerva
    9. Mai 2010

    “Soweit ist weis gibt es 2 verschiedene Beschneidungen bei Frauen. Wobei nur die schwerere Form zu schmerzen/ Lustverlust führt.”

    Das ist nicht korrekt. Es gibt zwar zwei Arten, aber zu Schmerzen und Lustverlust führen beide.

    Bei der “schlimmeren” werden den Mädchen die Klitoris, sowie die inneren und äußeren Schamlippen entfernt und die Scheide bis auf einen kleinen Spalt zum Urinieren und für die Menstruation zugenäht.

    Bei der “leichteren” (leichter – dabei dreht sich mir der Magen um) wird die Klitoris komplett entfernt.

    Du verwechselst das wahrscheinlich mit der Möglichkeit, sich das kleine Häutchen über der Klitoris entfernen zu lassen – das tun einige Frauen, weil sie sich mehr sexuelle Erregung versprechen.

  9. #9 Gluecypher
    9. Mai 2010

    @martin k.

    Nun ja, die männliche Beschneidung (Was haben die ganzen Religiösen eigentlich für ein Problem mit Genitalien? Und vor allem: wieso sollte die natürliche Form, die ja offensichtlich ein göttliche Wesen nach dem Glauben der Religiösen genau so geschaffen hat, dann noch nachträglich der Veränderung bedürfen?) mit der weiblichen Verstümmelung zu vergleichen, ist doch – gelinde gesagt – ein Vergleich, der nicht nur hinkt, sonder der im Rollstuhl fährt und taub-blind ist.

    Als analog müsste dann dem Mann die Eichel abgeschnitten und ausserdem die Harnröhre künstlich verengt werden. Auch wenn es die AAP nicht soooo gerne hört, weil ja mal wieder ein paar Fundamentalisten verärgert werden könnten, das ist Verstümmelung und durch kein altes Märchenbuch zu rechtfertigen.

  10. #10 wolfgang
    10. Mai 2010

    also wenn sich Vincent van Gogh das Ohr halb/ganz abschneidet hat keiner ein Problem das als (Selbst)verstümmelung zu bezeichnen.

    Deswegen ist Genitalverstümmelung auch ein richtiges Wort. Wenn Genitalien Minderjähriger ohne medizinische Indikation verstümmelt werden ist das bei uns ein ungesetzlicher Eingriff, auch wenn die Eltern zustimmen.

    Tja und dann gibts noch medizinisch Indizierte Eingriffe. zB therapierefraktäre Phimose bei Buben.
    Oder ein pathologischer PAP Befund der eine Konisation erfordert bei Frauen.
    Nur letzteres ist ja auch eine Genitalverstümmelung, wenn auch medizinisch indiziert. Momentan haben wir eine Impfung gegen 70% der Cervixkarzinome.
    Und dann gibt es hierzulande eine Menge Personen auch Ärzte, die sich gegen diese Impfung, die eine Prävention vor Genitalverstümmelung ist, aussprechen.

    Ist schon sehr komisch.

  11. #11 Wb
    11. Mai 2010

    Mal abstrakt:
    Wenn man dem Wahnsinn ein wenig die Pforte öffnet, dann sitzt er bald am Esstisch und bestimmt den Speiseplan.

    Gutmenschliches Entgegenkommen ist hier zwar verständlich, aber sehr schädlich.
    Das Gutgemeinte ist bekanntlich der ärgste Feind des Richtigen.

    MFG
    Wb

  12. #12 Circulus
    18. Mai 2011

    Penn und Teller Season 3 Folge 1 befasst sich mit Beschneidung (bei Jungen).

    @martin k

    Da wirds allerdings so dargestellt, dass man durchaus eine “neue Vorhaut” erschaffen kann…