Im Juni 2000 konnte der US-Präsident Bill Clinton den Vollzug eines Mega-Projekts verkünden: Das menschliche Genom sei erstmals vollständig entschlüsselt, und damit die Hoffnung verbunden, dass es “die Diagnose, Verhütung und Behandlung der meisten, wenn nicht aller menschlicher Krankheiten revolutioniert”. Doch zehn Jahre später zieht die New York Times in einem Artikel eine ernüchternde Bilanz: Die Ziele, etwa die genetische Ursachen von Krebs und Alzheimer zu finden und zu kontrollieren, seien heute so unerreichbar wie vor einem Jahrzehnt. Was vielleicht daran liegt, dass die Hoffnung überzogen war, man müsse nur die gentischen Marker finden, dann komme die Therapie von alleine:

“Genomics is a way to do science, not medicine,”

zitiert die Times den Präsidenten des Memorial Sloan-Kettering Cancer Center in New York, Harold Varmus, der im Juli die Präsidentschaft des National Cancer Institute übernehmen wird. Eines der Probleme ist, dass man eigentlich das Genom jedes einzelnen Patienten analysieren und dekodieren müsste – und das ist bisher noch kaum bezahlbar. Selbst wenn, wie erhofft, die Kosten schon bald auf 5000 bis 10.000 Dollar fallen, wird dies als Routine-Diagnosemethode noch fürr die meisten Patienten unerschwinglich bleiben.

Der Artikel ist die erste Folge einer zweiteiligen Serie: The Genome at 10.

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Kommentare (10)

  1. #1 Uwe-Jürgen Ness
    14. Juni 2010

    “Wenn die Forschung weiter so rasch wie derzeit vorankommt, dürften um die Jahrhundertwende klinische Versuche für eine ganze Reihe von Krankheiten in Gang sein.”, so der amerikanische Molekularbiologe Inder Verma in einer Prognose Ende 1990. Als Mitte der 90er Jahre die Decodierung des Humangenoms in großem Stile begann und Craig Venter fast wöchentlich Schlagzeilen generierte, wieviel Prozent denn schon entschlüsselt worden seien, gab es nur wenige Stimmen, die daraufhin hinwiesen, dass man damit vielleicht alle Buchstaben eines fremden Alphabets, vielleicht sich sogar den Sinn einzelner Worte begreifbar machen werde, mitnichten aber nach Abschluss des Humangenomprojektes fähig sei, ein ganzes Buch in einer fremden Sprache zu lesen.
    Das genetische Paradigma, das ein Erklärungsmuster auf einer relativ einfachen Ebene von genetischer Kodierung und Dekodierung liefert, ist unzulässigerweise auf die komplexe Ebene der Zelle und des Organismus ausgeweitet worden. In der molekularbiologischen Forschung wird oft der Eindruck erweckt, fast alle Erkrankungen seien auf die genetische Struktur zurückzuführen. In der Genetik wird schließlich jedes Lebewesen auf die Struktur seines Erbgutes, seiner DNA zerlegt. Allein die verschiedene Abfolge der vier Grundbausteine ist demnach verantwortlich für verschiedene Arten – Mensch wie Tier. Dieser reduktionistische Ansatz führt zu einem deterministischen Konzept von Krankheiten: je nach Intaktheit der Gene wird geschlossen, ob ein Mensch krank oder gesund ist. Wegen der einseitigen Paradigemstellung in der Erklärung von Krankheitsursachen wird in der Gentherapie das Wirken dieser sich selbst organisierenden Strukturen (molekulare, zelluläre Netzwerke) ignoriert. Über diese Netzwerke wissen wir jedoch nicht viel mehr, als dass sie existieren. Dennoch werden bereits Menschen gentherapeutisch behandelt, ohne dass überhaupt die Grundlagen vollständig erforscht sind. Lediglich die geringe Anzahl von monogenen Erbkrankheiten kann nach dem derzeitigen Stand der Technik über rein genetische Anomalien erklärt werden.

  2. #2 Joe Dramiga
    14. Juni 2010

    Ich habe zu dem Thema auch einen Blog-Artikel verfasst, allerdings habe ich meinen Fokus auf einen anderen Aspekt der Genomsequenzierung.

    Nach zehn Jahren noch immer Lücken im menschlichen Genom

    https://lichtblume.wordpress.com/2010/04/22/nach-zehn-jahren-immer-noch-lucken-im-menschlichen-genom/

  3. #3 albert wilfert
    16. Juni 2010

    Erwin Chargaff, einer der bedeutenden Entdecker der Biochemie, hat genau Dieses prophezeit. Viel Lärm um (fast) Nichts.

    Crick und Watson (die Nobelpreisträger) hatten von Chemie kaum eine Ahnung.
    Und Craig Venter ist einfach ein Abenteurer. Mit solchen Leuten kann man zwar Milliarden verprassen. Und einen amerikanischen Präsidenten hineinlegen. Seriöse Wissenschaft schaut dennoch anders aus.

  4. #4 h.t.
    16. Juni 2010

    Erwin Chargaff, einer der bedeutenden Entdecker der Biochemie, hat vor ca. 15 Jahren genau Dieses prophezeit. Viel Lärm um (fast) Nichts.

    Crick und Watson (die Nobelpreisträger) hatten von Chemie kaum eine Ahnung.
    Und Craig Venter ist einfach ein Abenteurer. Mit solchen Leuten kann man zwar Milliarden verprassen. Und einen amerikanischen Präsidenten hineinlegen. Seriöse Wissenschaft schaut dennoch anders aus.

  5. #5 Jürgen Schönstein
    16. Juni 2010

    @albert wilfert = h.t.
    Eine Identität genügt. Die Sockenpuppe bitte im Schrank lassen.

  6. #6 Uwe-Jürgen Ness
    18. Juni 2010

    Da ich jetzt ein paar Minuten mehr Zeit habe, möchte ich noch einige Gedanken zu meinem erst unlängst erfolgten Blogeintrag ergänzen. Natürlich könnte man auch ganze Aufsätze verfassen, aber das macht in Blogs wenig Sinn:

    Jenseits der Dekodierung und der schlichten Diagnose hat die Gentherapie mit einer Vielzahl von Schwierigkeiten zu kämpfen, die durch verschiedene Methoden des Gentransfers (retrovirale Vektoren oder chemisch-physikalische Verfahren mit Liposomen- bzw. Goldpartikelbeschuss) nicht zufriedenstellend gelöst werden können. Prof. John Fagan, der an der Decodierung von Genen beteiligt war, die Krebs auslösen können, spricht bei der somatischen Gentherapie schon seit Jahren von einer “technologischen Sackgasse”.
    Finanzierbar und therapierbar wäre bestenfalls eine kleine Anzahl von monogenen Erbkrankheiten. Übrigens sollte man bedenken, dass mit den Geldern, die dafür ausgegeben werden, auch elementarste Hygienemaßnahmen in der sog. Dritten Welt finanziert werden könnten. Selbst in der BRD kämen diese Verfahren nur einem erlauchten Kreis von Patienten zugute. Zumindest die gesetzlichen Krankenkassen würden niemals Hunderttausende Euro für somatische Gentherapien ausgeben.
    Es gibt eine wachsende Kluft zwischen der Decodierung von defekten Genabschnitten, also der Diagnose sowohl im embryonalen Stadium als auch bei bereits geborenen Menschen und den eigentlichen Therapiemöglichkeiten. Es werden zwar immer mehr Erbkrankheiten und genetische Prädispositionen für Massenleiden gefunden, (natürlich auch nach der eigentlichen Sequenzierarbeit) Therapieverfahren selbst jedoch scheitern bzw. werden aus Kostengründen erst gar nicht entwickelt. Angesichts von immer mehr Krankheiten und Merkmalen, für die man genetische Prädispositionen findet, wird es für Befürworter und Humangenetiker selbst schwer, sich für oder gegen eine “selektive Abtreibung”, also aus eugenischen Gründen, zu entscheiden.
    Eine “genetische Normalität” beim Menschen wird konstruiert, Abweichungen davon als krank oder behindert klassifiziert. Vermeintlich objektive naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden auf diese Weise in gesellschaftliches und politisches Handeln transferiert: Entschieden müssen wir uns gegen eine solche Einteilung in wertvolles und wertloses Leben wehren. Eine Bewusstseinsbildung in dem Sinne, dass ein Mensch mit Behinderungen oder mit einer potentiell genetisch verursachten Krankheit, wie etwa Krebs, besser gar nicht zur Welt gekommen wäre, läuft einer humanen Gesellschaft zuwider. Krankheitsursachen sind komplexer als Humangenetiker behaupten. Ob eine genetische Prädisposition tatsächlich zum Ausdruck kommt, hängt viel stärker von zivilisatorischen Zwängen, ungesunder Lebensweise, krankmachenden Arbeitsplätzen und einer vergifteten Umwelt ab. Hier muss eine Politik ansetzen, die sich nicht auf Reparatur und Eugenik konzentriert, sondern auf Pluralität, Solidarität, Nachhaltigkeit und Ursachenbekämpfung.

  7. #7 Karl Mistelberger
    18. Juni 2010

    In diesem Beitrag wird etwas unterschlagen:

    But while 10 years of the genome may have produced little for medicine, the story for basic science has been quite different. Research on the genome has transformed biology, producing a steady string of surprises.

    Das macht vorerst keinen Menschen gesund, aber wie soll man Therapien entwickeln ohne ein Verständnis der grundlegenden Mechanismen zu besitzen?

  8. #8 Stefan Grünert
    29. Juni 2010

    Natürlich war der Hype vor 10 Jahren riesig und kaum ein Medium liess kritische Stimmen zu. Aber 10 Jahre (oder 7, je nachdem wie man zählt) danach ist der Fortschritt auch für die klinische Forschung enorm:

    billige diagnostische Methoden halten Einzug
    Defekte bei monogenen Erkrankungen werden im Handumdrehen identifiziert
    Das Verständnis über komplexe Erkrankungen wie Krebs wächst

    Laut einer von Nature durchgeführten Umfrage gaben 69% der befragten BiowissenschaftlerInnen an, dass sie vom HGP inspiriert wurden WissenschaftlerInnen zu werden oder ihre Forschungsrichtung zu ändern. 90 % glauben, dass ihre eigene Forschung vom HGP profitierte und 30 % nutzen die Sequenz nahezu täglich.

    Meine Meinung ist: die Investition hat sich bei weitem gelohnt!
    Siehe auch hier: https://www.dialog-gentechnik.at/editorial.php

  9. #9 h.t.
    1. Juli 2010

    @ stefan grünert

    Nüchtern betrachtet ist unter ihren aufgezählten Erfolgen Nichts dabei, was konkret
    einem Kranken hilft. Es ist nett dass das Verständnis wächst aber davon hat ein Krebskranker so gut wie Nichts. Von billigen diagnostischen Methoden zu sprechen ist eher ein Hohn wenn man an die Gelder denkt, die da hineinfliessen.
    Und Diagnose hat noch nichts mit Therapie zu tun. Was haben sie davon dass sie Defekte im “Handumdrehen” identifizieren können wenn sie sie doch nicht beheben können. Hier von enormen Fortschritt zu reden ist einfach Propaganda und sonst fast Nichts. Ich meine es ist eher so dass die Befragten halt von ihren Jobs abhängig sind und es nicht zugeben würden dass hier viel Geld ausgegeben wird für minimalen Effekt aus dem simplen Grund weil sie davon profitieren.
    Ich bin mir sicher dass in den meisten Firmen ein Mitarbeiter gekündigt würde, der
    offen sagen würde dass er vom Fortschritt der Arbeit nicht überzeugt ist.
    Also bläst er in die Posaune und betont die Wichtigkeit seines Tuns.
    Ich bin mir sicher dass manche Dinge im Leben so einfach sind.
    Wir sind nahe dran, wir brauchen nur noch ein paar hundert Milliarden $ mehr.
    Das hören wir doch schon seit geraumer Zeit. Und der Staat presst den Menschen das Geld ab, das sie für ein stressfreieres und gesünderes Leben dringend brauchen würden. Ich halte das für einen riesigen Betrug. Sorry.

  10. #10 Anhaltiner
    6. Juli 2010

    @h.t. Da frage ich mich blos warum die Mensch im Mittelalter so früh gestoben sind? Nur Bio-Kost, keine Chemie, leben im Einklang mit der Natur – also viel gesünder gehts ja wohl kaum.