Der folgende Text ist ein Kapitel, das ich für das Buch “Mekkas der Moderne – Pilgerstätten der Wissensgesellschaft” geschrieben habe. Die Herausgeber – der Spiegel-Wissenschaftsredakteur Hilmar Schmundt, der Max-Planck-Rechtsgelehrte Milos Vec und die Bremer Geowissenschaftlerin Hildegard Westphal – hatten mich darum gebeten, nachdem sie über diesen Blogeintrag hier gestolpert waren. Und weil ich mich einerseits sehr geehrt fühle, mit Personen wie Irenäus Eibl-Eibesfeld, Harald Lesch, Steve Wozniak oder auch meinem Mit-Scienceblogger Ernst-Peter Fischer (um nur mal ein paar der insgesamt 65 Autoren-Namen zu “droppen) in einer Autorenliste zu stehen, andererseits die herausgebende Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina vor 358 Jahren in meiner Heimatstadt Schweinfurt gegründet wurde und ich daher eine seltsame, lokalpatriotische Verbindung habe, erklärte ich mich gerne bereit, das Stück zu schreiben.
Der Nuvuagittuq-Grünsteingürtel, Kanada: Fundament der Tiefenzeit
Von Jürgen Schönstein
Ein paar flache Felsrücken an einer kalten Bucht im hohen Norden Kanadas, kein Auto weit und breit, kein Internetanschluss, der nächste Ort über 30 Kilometer entfernt. Wer hierher kommt, bringt besser Zeit und Zelt und Schlafsack mit. Doch die Reise lohnt sich. Wer auf diesen grauschlierigen Felsen steht, betritt einen Grundstein des modernen Wissenschaftsgebäudes: die älteste intakte Gesteinsformation des Planeten, das Fundament der sogenannten Tiefenzeit, eine schier unendliche Vergangenheit, ohne die Darwins Idee vom Werden und Vergehen der Arten nicht denkbar wäre.
Steine und Zeit gehören zusammen, der Begriff “steinalt” existierte schon lange, bevor uns der britische Geologe Charles Lyell mit seinen drei Bänden die “Principles of Geology” Anfang des 19. Jahrhunderts die Idee einer Erde vermittelte, die über Millionen und Milliarden von Jahren geformt wurde. Und nicht innerhalb einer Schöpfungswoche vor rund 6000 Jahren, wie in der Bibel beschrieben.
Doch was bedeutet “steinalt” wirklich? Im Harz findet man beispielsweise Mineralien, die sich vor etwa 500 Millionen Jahren kristallisiert haben – nach menschlichen Maßstäben uralt, aber gemessen am Alter der Erde (rund 4,6 Milliarden Jahre) eher junges Material. Geradezu neumodischer Kram, verglichen mit dem Grünstein von Nuvvuagittuq, dem Gesteinsschild auf der Ostseite der kanadischen Hudson Bay. Dessen Alter wird von Wissenschaftlern der McGill-Universität auf 4,28 Milliarden Jahre beziffert. Natürlich gibt es Konkurrenten für diesen Rekord, in Australien zum Beispiel wurden Einschlüsse in Gesteinen entdeckt, die vielleicht noch ein wenig älter sind. Aber in Kanada handelt es sich um intakte Formationen aus der Entstehungszeit der damals noch jungen Erdkruste.
Sind solche Zeitspannen für uns überhaupt vorstellbar? Zeit ist etwas, von dem es in meiner Wahlheimat New York nur sehr wenig zu geben scheint: Die sprichwörtliche “New York Minute”, in der sich die Geduldsspanne der New Yorker misst, verstreicht mit einem Lidschlag; Eile ist eine Tugend; und die Geschichte der Stadt lässt sich noch leicht in Jahrzehnten messen.
Aber wer, wie ich, einige Zeit in dieser Stadt verbracht hat, der lernt – selbst ohne erdwissenschaftlichen Wissenshintergrund – allein schon durch Beobachtung und Erfahrung, wie Zeit sich vertikal manifestiert: Wenn Wolkenkratzer neu entstehen, dann bohren sie sich erst als Gruben ins Grundgebirge und wachsen dann praktisch im Wochenrhythmus um ein Stockwerk. Jedem Kind wird hier klar, dass die oberen Geschosse die jüngsten sind – manchmal, vor allem in Zeiten knapper Finanzmittel und damit verzögerter Fertigstellung, um Jahre jünger als das Fundament.
Dass sich Zeit rein morphologisch in Höhen oder Tiefen beschreiben lässt, wäre sicher auch zu den Zeiten des schottischen Geologen James Hutton (1726 – 1797) noch leicht vermittelbar gewesen. Aber der Naturphilosoph und Geologe aus Edinburgh brachte das damalige Weltbild gleich in doppelter Hinsicht ins Schwanken. Einerseits beschrieb er das Gesicht der Erde nicht als Resultat eines einmaligen Schöpfungsaktes, sondern als Resultat eines beständigen Umformungsprozesses. Eine Herkulesaufgabe: seine vierbändige “Theory of the Earth” veröffentlichte er erst zwei Jahre vor seinem Tod. Noch dramatischer aber war seine Forderung, dass diese geomorphologischen Prozesse einer unerdenklich langen, unfassbar tiefen Zeit bedurften:
Time, which measures every thing in our idea, and is often deficient to our schemes, is to nature endless and as nothing; it cannot limit that by which alone it had existence; and, as the natural course of time, which to us seems infinite, cannot be bounded by any operation that may have an end, the progress of things upon this globe, that is, the course of nature, cannot be limited by time, which must proceed in a continual succession.
(James Hutton, “Theory of the Earth”, Band 1, Kapitel 1, Edinburgh, 1795)
Erst dieses Konzept einer “Deep Time” erlaubte Lyell, in seinem Werk die Grundlagen der Geologie zu etablieren. Sie erst gab Charles Darwin den zeitlich notwendigen Spielraum, mit dem er seine Theorie von der Entstehung der Arten durch das extrem langsam wirkende Wechselspiel von Mutation und Selektion überhaupt erst formulieren konnte.
Als Erdwissenschaftler (Geograph, um genau zu sein) erfasst mich immer wieder mal ein Anflug von Genugtuung, dass es eben nicht Kepler, Galilei, Newton oder andere Giganten der frühen Astrophysik waren, die aus der Tiefe des Raums auf eine Tiefe der Zeit schlossen. Sondern die bescheidenen Steineklopfer, die mit gesenktem Blick am Boden direkt unter ihren Füßen ferne Urwelten entdecken.
Sie mussten ihre verwegenen Theorien gegen scheinbar unüberwindliche Widerstände behaupten, gleichsam mit dem Kopf durch die Felswand. Die Widerstände kamen nicht nur von der Kirche, sondern von einer der größten wissenschaftlichen Autoritäten ihrer Zeit. In einem Artikel für Macmillan’s Magazine, erschienen am 5. März 1862, hatte kein geringerer als Sir William Thompson, der Nachwelt besser bekannt als der mit akademischen Ehren höchstdekorierte Lord Kelvin, das Alter der Sonne auf maximal 20 Millionen Jahre datiert. Diese Rechnung beruhte auf der Theorie, dass die Sonne ihre Strahlungsenergie aus einem Dauerfeuer von Meteoriteneinschlägen beziehe. Die Verbrennung reinen Kohlenstoffs – damals effizientester chemischer Vorgang angesehen – hätte sogar nur für 3000 Sonnenjahre gereicht.
Erst die Entdeckung der Radioaktivität, genauer gesagt: Ernest Rutherfords Überlegungen zum radioaktiven Zerfall als “Treibstoff” der Sonne, ein knappes halbes Jahrhundert später, schob diesen wissenschaftlichen Stolperstein beiseite und ebnete der Tiefenzeit den Weg.
Hutton glaubte an eine unendliche Erdgeschichte. “Wir finden keine Spur eines Anfangs, keine Aussicht auf ein Ende”, schrieb er in einem Aufsatz, den er 1788 der Royal Society of Edinburgh präsentierte. Inzwischen weiß man, dass es einen Anfang gegeben haben muss, und dass ein Ende durchaus plausibel ist. Seit 4,54 Milliarden Jahren besteht, nach unseren heutigen Erkenntnissen, jener felsige Körper, der als dritter Planet um unser Zentralgestirn kreist und den wir Erde nennen.
Und so kommen wir also zum Nuvvuagituq-Grünsteingürtel zurück: „Superior-Kraton” wird dieser Teil des uralten Kontinentalschildes bezeichnet, der das Herzstück der nordamerikanischen Platte bildet. Als sich die Amphibolite und anderen Mineralien formten, aus denen er besteht, war die Erde gerade mal 260 Millionen Jahre jung. Zugegeben, über das genaue Alter wird man unter Wissenschaftlern sicher noch lange streiten. Der Geologe Don Francis, Professor an der kanadischen McGill-Universität ist gemeinsam mit seinem Doktoranden Jonathan O’Neill Verfasser eines “Science”-Artikels, in dem er das Alter des Grünsteingürtels zu bestimmen versuchte. Selbst diese Forscher räumen einen Spielraum von 3,8 bis 4,28 Milliarden Jahren ein, der aus der Ungewissheit resultiert, ob die Datierung durch den radioaktiven Zerfall von Samarium-Isotopen zu Neodym wirklich das Alter der metamorphen Formation selbst oder “nur” einiger Ausgangsmineralien bestimmen kann. “4,28 Milliarden ist die Zahl, die ich bevorzuge”, gibt Francis freimütig zu. Nicht jede Hypothese lässt sich eben sofort beweisen, das ging schon Hutton so. Fruchtbar war seine Vermutung einer Tiefenzeit dennoch.
Es ist nicht ohne wissenschaftliche Pointe, dass die Tiefe der Zeit, die Hutton einst aus der Erkenntnis des stetigen Wandels der Erdoberfläche folgerte, ausgerechnet in der flachen Weite der östlichen Hudson Bay sichtbar wird, wo sich eine Felsplatte seit mehr als vier und einem Viertel Milliarden Jahren ohne geologische Verformung erhalten hat. Anders als der Grand Canyon Arizonas, in dem selbst ein Laie – sofern er nicht überzeugter Junger-Erde-Kreationist ist – den sprichwörtlichen “Zahn der Zeit” nagen spürt, bietet sich der Nuvvuagittuq-Gürtel den Sinnen eher als eine Metapher der Ferne denn der Tiefe an.
“Zu wissen, dass dies die ältesten Felsgesteine der Welt sind, macht es zu etwas Besonderem”, beschrieb der Mit-Entdecker O’Neil sein beinahe ehrfürchtiges Gefühl, als er im Sommer 2008, nach der wissenschaftlichen Datierung des Gesteins, erstmals wieder den Grünsteingürtel betrat.
Er wird wohl noch oft zurückkehren müssen, denn es scheint, als ob Nuvvuagittuq noch einiges zu offenbaren hat. Die McGill-Forscher sind sicher, dass die Formation, aus der sich der Gesteinsgürtel gebildet hat, auf dem Grunde eines urzeitlichen Meeres abgelegt wurde, die nur gut eine Viertelmilliarde Jahre junge Erde also schon eine Hydrosphäre besaß.
Mehr noch: Die hier auftretende Bändererz-Struktur aus Magnetit und Quarz – die auch typisch für die Sedimente im Umkreis von Tiefsee-Schloten ist – gilt weithin als ein Indikator für die Anwesenheit von Bakterien. Falls sich dies bestätigen lässt, würden wir aus der Tiefe der Zeit gewissermaßen das früheste Ticken der biologischen Uhr unseres Heimatplaneten hören.
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