Es war am Mittwoch das Titelthema der New York Times – und hat vermutlich auch seinen Weg in die deutschen Medien gefunden, weshalb ich die Nachricht erst mal nur sehr knapp halte: Eine groß angelegte (891 Patientinnen) Studie, an der praktisch alle großen US-Krebskliniken beteiligt waren und deren Resultate im aktuellen Journal of the American Medical Association veröffentlicht wurde, konnte belegen, dass bei etwa 20 Prozent aller Brustkrebspatientinnen (das entspricht allein in den USA rund 40.000 Frauen jährlich) die radikale chirurgische Entfernung der befallenen Lymphknoten in den Achselhöhlen zu keiner Verbesserung oder Verschlechterung der Heilungschancen führt, aber dafür im Gegenzug die Infektionsgefahr fast verdreifacht. Das ist für jene 20 Prozent der betroffenen Frauen, deren Krebs bestimmte Voraussetzungen erfüllt, bestimmt eine wunderbare Nachricht; ich will hier aber ganz vorsichtig sein und keine falschen Hoffnungen wecken, zitiere daher direkt aus dem Jama-Abstract:
Among patients with limited SLN metastatic breast cancer treated with breast conservation and systemic therapy, the use of SLND alone compared with ALND did not result in inferior survival.
Wobei SLN für sentinel lymph node metastasis steht (und sich sentinel lymph node ins Deutsche als Wächterlymphknoten übersetzt), ALND für axillary lymph node dissection steht, also die vollständige Entfernung aller Lymphknoten in den Achselhöhlen und SLND nur die sentinel lymph node dissection bezeichnet, also lediglich die Entfernung zu diagnostischen Zwecken jenes Lymphknotens, der dem Krebstumor am nächsten liegt und in dem sich mit großer Wahrscheinlichkeit die ersten Metastatsen entwickelt haben; all dies bezieht sich offenbar auf Partientinnen, bei denen eine Diagnose in einer verhältnismäßig frühen Stadium gestellt werden konnte.
Doch obwohl ich mich aus rein privaten Gründen beim Thema Brustkrebs sehr angesprochen fühle, ist es nicht die Nachricht und die Studie an sich, die mich hier zum Schreiben bewegt haben, sondern folgendes Statement, das eine der Co-Autorinnen der Studie, Dr. Monica Morrow vom New Yorker Memorial Sloan-Kettering Cancer Center der New York Times gegeben hatte:
Doctors and patients alike find it easy to accept more cancer treatment on the basis of a study, Dr. Morrow said, but get scared when the data favor less treatment.
Auf Deutsch: Medizinische Forschungsergebnisse, die zu einer intensiveren Behandlung führen, werden von Ärzten und Patienten gleichermaßen leicht akzeptiert – wenn das Resultat jedoch zu weniger Behandlung, zum Beispiel zum Verzicht auf eine bisher für nötig gehaltene Operation rät, dann schrecken sowohl Patienten als auch Ärzte davor zurück. Sie sagte dies, weil sie erwartet, dass es dieser neuen Sichtweise schwer fallen wird, sich schnell durchzusetzen.
Und so irrational dies auf Anhieb klingen mag (keine Operation ist doch immer angenehmer und wünschenswerter als eine Operation, wie klein auch immer), so erstaunt musste ich mir selbst eingestehen, dass ich – soweit ich das als Mann in dieser Situation überhaupt beurteilen kann – vermutlich genau so reagiert hätte.
Ab dieser Stelle hatte ich eine längere Betrachtung über das Trägheitsmoment in der Wissenschaft angestellt, am drastischsten aufzeigbar am Beispiel von Alfred Wegeners Theorie der Kontinentaldrift, die heute so plausibel und auf breiter Basis anerkannt ist, aber ein halbes Jahrhundert lang von der etablierten Wissenschaft abgelehnt wurde; über Ärzte, die vor allem in den USA eine “cover-your-ass”-Strategie der mediznischen Redundanz verfolgen müssen, weil sie sich in Kunstfehlerprozessen weniger vor der Verantwortung für das, was sie getan haben, als was sie nicht getan haben, fürchten müssen; von der Schwierigkeit zu akzeptieren, das das, was man jahrelang nach bestem Wissen und im besten Gewssen getan hat, nun einfach falsch, ja sogar schädlich sein kann. Alles gelöscht, weil ich letztlich an der Frage hängen geblieben bin: Ist das so? Haben wir wirklich mehr Angst davor, möglicher Weise nicht genug für unser Überleben getan zu haben, als Angst davor, dass dieser Eifer unser Leben verkürzen könnte? Und da ich nur ein Leben habe, kann ich auch nur mit einer Stimme antworten. Würde mich aber interessieren, wie andere darüber denken.
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