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Mein Sohn (11) und ich lesen zurzeit jeden Abend ein Kapitel aus Herman Melvilles “Moby Dick” – und zwar nicht in einer redigierten Jugendausgabe, sondern Melvilles großartigen Originaltext (die Teamarbeit scheint mir notwendig, da die Sprache, aber auch die Sichtweise des Buches 160 Jahre alt ist und daher sowohl inhaltlich wie auch semantisch gelegentlich Übersetzungshilfe nötig ist). Aber warum schreibe ich das hier, in einem Scienceblog? Weil Forscher der National Oceanic and Atmospheric Administration in einem entlegenen Pazifik-Riff nun ein Wrack identifiziert haben, das in einem direkten Zusammenhang mit Melvilles Roman steht: Das Walfangschiff Two Brothers, das am 11. Februar 1823 an den French Frigate Shoals zerschellte und sank, stand unter dem Kommando des damals 31-jährigen Kapitäns George Pollard Jr. aus Nantucket – der dadurch berühmt wurde, dass sein erstes Schiff, die “Essex”, im November 1820 von einem (angeblich wütenden und rachsüchtigen) Pottwal mitten im Pazifik versenkt wurde (siehe Abbildung). Das Schicksal der “Essex” wiederum war eine der Hauptinspirationen für Melvilles Roman.


Ich will jetzt hier nicht die ganze Geschichte Pollards nacherzählen: Wer Lust und Zeit zum Lesen hat (und einigermaßen Englisch versteht), wird entweder hier, in diesem Buch mit Texten des “Essex”-Maats und Überlebenden Owen Chase, oder auch hier im Boston Globe noch eine Menge mehr Details finden. Spannend genug ist sie ja, mit zwei Schiffbrüchen, Kannibalismus unter den Überlebenden und – soweit es die Two Brothers betrifft – eines typischen Schatztaucher-Glückstreffers. Ebenfalls empfehlenswert wäre das Buch “Im Herzen der See”, in dem der Autor Nathaniel Philbrick das Schicksal der Essex aus derr Sicht des Schiffsjungen Thomas Nickerson nacherzählt.

Nein, ich will die Gelegenheit lieber dazu nutzen, noch einmal jedem zu empfehlen, Moby Dick zu lesen. Meine erste Begegnung mit dieser Walfang-Tragödie war im Alter von elf Jahren, als mir die deutsche, gekürzte (aber sehr gut übersetzte) Jugendausgabe in der Bearbeitung von Karl Bahnmüller geschenkt wurde. Seither habe ich das Buch mehr als ein Dutzend Mal gelesen, ab 1984 auch mehrfach in der Originalfassung. Und jedes Mal, wenn ich es mir vornehme, bin ich erneut überrascht und muss mich öfter wieder vergewissern, dass dieses Buch tatsächlich vor 160 Jahren, also mehr als ein Jahrzehnt vor Ausbruch des US-Bürgerkriegs, geschrieben wurde. Melvilles Positionen zur Gleichheit der Menschen (der “Kannibale” Quiqueg ist beispielsweise sein bester Freund), zum Kampf der Vernunft (verkörpert durch den Steuermann Starbuck) gegen den Aberglauben Ahabs, sowie zur religiösen Toleranz einerseits, dem Humanismus jedoch andererseits, wären heute manchem Tea-Partier vermutlich als zu fortschrittlich suspekt …*

Und auch das Thema Walfang selbst, wiewohl als nobles Unterfangen glorifiziert , wird – wie ich finde – stellenweise mit solch brutaler Ungeschminktheit behandelt, dass man beinahe unwillkürlich zum Anti-Walfang-Aktivisten werden könnte. Vielleicht sollte die International Walfangkommission ihren Mitgliedern den “Moby Dick” zur Pflichtlektüre vorschreiben … Allerdings muss man dazu wissen, dass Melville sein Buch in einer Zeit schrieb, als Lampen noch nahezu ausschließlich mit Walöl befeuert wurden (Kerosin wurde, als erstes Erdöl-Produkt, erst 1855 erfunden) und die amerikanischen Walfänger gewissermaßen die Opec ihrer Ära waren. Mag sein, dass ich da mehr in das Buch heineinlese, als Melville selbst reinschreiben wollte – aber in jedem Fall ist es für mich immer wieder eine lohnende Lektüre.

* Nachtrag:
Mit dem Verdacht, dass die neuen Konservativen in den USA am liebsten das Rad der Zeit bis weit ins 19. Jahrhundert zurückdrehen wollen, stehe ich offenbar nicht alleine da:

With the old Confederacy now the heart of the Republican base, boasting about the party’s Civil War-era legacy is no longer advisable. But sooner or later, Republicans were bound to notice other reasons to disavow Lincoln. He was, after all, the first president to institute an income tax. And he was also the first president to issue a paper currency — the “greenback” — that wasn’t backed by gold or silver. (…) We’ve always known that the modern G.O.P. wants to take America back to the way it was before the New Deal; but now it’s clear that the party wants to build a bridge to the 19th century, and maybe even to the antebellum era. Backward, march!

Abbildung: New Bedford Whaling Museum, New Bedford [CC-BY-NC-ND 4.0]

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Kommentare (9)

  1. #1 rolak
    11. Februar 2011

    Ziemlich viele Elfen in Text und Datum 😉
    Ich weiß noch daß ich ziemlich sauer war als mir nach ca der Hälfte (an der Erwähnung in den Vorseiten) auffiel, daß es nicht das eigentliche Buch ist – war aber schon bzw noch 13 (nicht nur um mal eine andere Zahl zu erwähnen).

  2. #2 Faustus
    11. Februar 2011

    Sehr zu empfehlen auch – in Bezug auf den Nachtrag – die gestern von mir zufällig entdeckte britische Mockumentary “CSA – Confederate States of America”, die eine Alternativwelt zeigt, in der die Konföderierten den Bürgerkrieg gewonnen haben. Gibt’s bei YouTube kostenlos zu sehen.
    Dazu kann man eig kaum noch was sagen außer einen Kommentator zu zitieren: “I cringed a lot watching this film.”

  3. #3 KommentarAbo
    12. Februar 2011

  4. #4 Matthias Nispel
    12. Februar 2011

    Was mir an dem Buch negativ auffiel, war dass Melville seinen Ishmael sich über ‘naturalists’ amüsieren lässt, die doch tatsächlich behaupten, Wale seien keine Fische.
    ‘Teach the controversy’, ‘Somebody has to stand up to the experts’, so klingt die heutige Version. Ich nehme an, dass Melville das nicht selbst geglaubt hat, sondern seinen Helden damit als unverbildetes Pendant zum Guten Wilden Queequeg aufbaut.
    Was die Essex angeht: vom Wal gerammt? Na klar, die Leute stecken sich ja auch bei schlecht geputzten Klobrillen mit STDs an 😀
    Pollard war ein schlechter Kapitän (meine Null-Hypothese 🙂 )

  5. #5 BreitSide
    17. Februar 2011

    Was sind STDs?

  6. #6 Jürgen Schönstein
    17. Februar 2011

    @BreitSide

    Was sind STDs?

    Sexually transmitted diseases – Geschlechtskrankheiten.

  7. #7 Christian A.
    17. Februar 2011

    Mit diesem Wissen kann man kein Auto mit Stader Kennzeichen mehr sehen ohne zu kichern. Für mich als Nordlicht ein echtes Problem!

  8. #8 Jürgen Schönstein
    17. Februar 2011

    @Christian A.
    Dann sei nur vorsichtig, dass es Dich nicht in diese Orte verschlägt: Was ist schon ein Name?

  9. #9 BreitSide
    17. Februar 2011

    Ach Du Schande! Ich wäre mal fast nach Stade gezogen.

    Schöner Fred, das mit den Namen. Hab noch ein paar dazugetan. Ha, da fehlt glaubich noch Hähnlein bei Alsbach, des leit aach im Hessische.