Noch ist es nur eine gesetzgeberische Idee, die als Teil von Barack Obamas Gesundheitsreform wahrscheinlich sowieso erst mal im parteipolitischen Morast stecken bleiben wird. Aber die Idee selbst ist – vom Prinzip her, jedenfalls – sehr clever und verdient, deutlicher herausgestellt zu werden:
Ein großer Posten im amerikanischen Gesundheitswesen sind die Prämien für die besondere Haftpflichtversicherung, mit der sich Ärzte im prozessfreudigen Amerika gegen die wirtschaftlichen Folgen von “Kunstfehlern” oder Behandlungsfehlern absichern müssen. Eine Reform des Haftungsrechts (Tort Reform) ist zwar ein politischer Dauerbrenner – aber einer, bei dem seit Jahrzehnten nur heiße Luft produziert wird. (Auch in Deutschland sind die Kosten der ärztlichen Haftpflicht, wie ich hier sehen kann, ein Thema.) Die Idee, mit der diese Kosten gebremst werden sollen, ist geradezu bestechend: Evidenzbasierte Medizin (EBM) soll als Grundlage eines zu fixierenden Regelwerkes niedergelegt werden; alle Ärzte, die sich nachweislich an dieses Regelwerk halten, sind automatisch immun gegen Kunstfehlervorwürfe und brauchen daher keine teure Zusatzversicherung abzuschließen.
So einfach ist es in der Realität natürlich nicht, denn im Einzelfall muss der Arzt ja immer noch beweisen können, dass er sich auch an die Regeln gehalten hat. Aber da Medizin kein Hokuspokus ist, sondern a) eben solchen Regeln folgt und b) allein schon aus Abrechnungsgründen jedes Behandlungsdetail protokolliert, dürfte dies noch das kleinere Problem sein. Schwieriger ist es, dieses Regelwerk aufzustellen. Denn wie man evidenzbasierte Medizin genau definiert, welche Behandlungen also notwendig und sinnvoll sind, darüber streiten sich vor allem die zahlenden Geister. Wenn man die Festlegung allein den Versicherungen einerseits, oder den Leistungsanbietern andererseits überließe, käme kaum ein konsensusfähiges Regelwerk dabei heraus. (Darüber liegen Anbieter und Versicherungen sowieso schon im Dauerstreit.)
Eine schöne Idee also, die wohl an der praktischen Umsetzung scheitern wird. Aber dennoch eine Idee, die an nicht völlig ignorieren sollte. Denn evidenzbasierte Medizin ist immer noch die beste Medizin, die wir haben. Und “Evidenz” bedeutet auch, dass ihre Folgen und Nebenwirkungen nach dem beste Stand der Wissenschaft ermittelt wurden – dass dies nie der Weisheit letzter Schluss sein kann, ist natürlich klar. Aber die Verantwortung für Spätfolgen sollte nicht beim Arzt liegen, sondern auf breiterer Basis getragen werden.
In der Dienstagausgabe der New York Times (die seit dieser Woche noch eingeschränkter online verfügbar ist, da Vielnutzer seither bezahlen müssen – ich werde von jetzt an also mit meinen NYT-Links geizen) hat der texanische Rechtsprofessor Ronen Avraham die Idee sogar noch einen Schritt weiter getragen: Er schlägt vor, dass die Richtlinien nicht von Anbietern oder Versicherern, auch nicht von Patienten-Interessengemeinschaften entwickelt werden sollen, sondern von profitorientierten Consultingfirmen, die sich auf evidenzbasierte Medizin spezialisiert haben. Hier kommt der Clou: Diese Firmen entwickeln das Regelwerk, für das sie dann von den Teilnehmern am Gesundheitssystem (Ärzte, Kliniken, Labors etc.) Lizenzgebühren kassieren dürfen. Allerdings haften sie dann auch, wenn die Regeln unangemessen oder unvollständig sind. Anwälte werden also immer noch jemanden zum verklagen finden …
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