Einen hab’ ich noch, einen hab’ ich noch … Eigentlich wollte ich das Thema VT, nachdem ich es zweimal“gemolken” hatte, ja erst mal zu den Akten legen. Aber ich bin ja noch eine Geschichte schuldig, wie der Geheimhaltungsreflex und die Deckung von Kollegen innerhalb der Geheimdienste (beispielsweise) Verschwörungstheorien erst den nötigen Feinschliff gibt. Eine Geschichte aus meinem persönlichen Fundus. Und ich werde die Story wie eine VT aufbauen – wobei ich erst die Fakten schildern will, so weit sie bekannt oder belegbar sind, und dann nach und nach die VT-Komponenten einbaue. Alles klar?
Die Geschichte spielt in Florida, am 11. September 2001. Präsident George W. Bush hatte die Nacht zuvor im Tennis-Hotel Colony Beach & Tennis Resort auf der Insel Longboat Key vor Sarasota verbracht, wo er an einer Benefizveranstaltung teilgenommen hatte; am Morgen stand der Besuch in einer Schule in Sarasota an. Das Hotel war vom Secret Service, der für die Sicherheit des Präsidenten zuständig ist, abgesegnet worden – da Longboat Key nur über zwei Zugbrücken zu erreichen ist, war der Zugang leicht zu kontrollieren.
So weit das eindeutigste Faktum: George W. Bush war in der Nacht vom 10. zum 11. September 2001 auf Longboat Key. Die nächsten Fakten sind schon etwas unsicherer: Sie beruhen auf Zeugenberichten – Berichten, die mir gegenüber zwar gemacht und/oder bestätigt wurden, und die auch untereinander schlüssig sind – aber es bleiben Zeugenaussagen, mit allen potenziellen Wahrnehmungs- und Erinnerungsfehlern.
Der Präsident hatte sich gegen sechs Uhr früh zum Joggen bereit gemacht; in der Lobby des Hotels (das aus mehreren Bungalows und einem Hochhaus besteht, letzteres mit der Präsidentensuite) herrschte dementsprechender Betrieb an Sicherheitskräften. Neben dem üblichen Secret-Service-Aufgebot gehörten dazu auch örtliche Polizeieinheiten und der stellvertretende Feuerwehrhauptman von Longboat Key, Carroll M. (Namen kürze ich hier mal mit Rücksicht auf die Personen ab). Und der will folgendes Szenario überhört haben: Am Tor der Hotelanlage (ein paar hundert Meter und mehrere Kurven von der Lobby entfernt) war ein weißer Kastenwagen vorgefahren. Die Insassen dieses Kastenwagens – offenbar zwei Personen – hatten sich als Reporter ausgegeben und behauptet, sie hätten einen Interviewtermin, der auch mit dem Secret Service abgesprochen war. Sie nannten den Namen eines Secret-Service-Mitarbeiters, der über die Sache informiert sei. Da auf der Liste der Wache kein entsprechender Eintrag zu finden war, fragte das Wachpersonal (noch nicht Secret Service, sondern Hotel-Personal) in der Lobby nach. Und diesen Funk-Wortwechsel hatte M. mitgehört.
Auch der Caterer des Hotels, Bob H., bestätigt, den weißen Kastenwagen an diesem Morgen gesehen zu haben: H. stand direkt hinter dem Van und musste dementsprechend warten, bis er selbst durchfahren durfte. Als H. endlich die Schranke passieren durfte – er wurde vorbei gewinkt – stand der Van immer noch da, und die Insassen debattierten mit dem Wachpersonal.
Zurück zum Geschehen in der Lobby: Da auch der Secret Service nichts von diesem Interview wusste, wiesen sie die Schrankenwärter an, den Kastenwagen und seine Insassen nicht durchzulassen.
Bis hierhin ist die Sache noch nach allen Regeln des Journalismus sattelfest: Ich hatte mir von M. diese Version seiner Geschichte so weit bestätigen lassen und auch mit H. selbst gesprochen. Nun kommt der erste Schritt zur VT: Aus dem Ereigis wird eine Story.
Diese Story hatte M. ein paar Tage später als Anekdote – die natürlich durch die Ereignisse, die an diesem Tag noch folgen sollten, eine besondere Dramatik erhielt – bei einem Empfang zum Besten gegeben, bei dem auch ein Reporter der örtlichen Lokalzeitung, des wöchentlich erscheinenden Longboat Key Observer anwesend war. Der hörte die Story – und erinnerte sich daran, dass auch der Chef der Afghanischen Nordallianz, Ahmad Shah Massoud, zwei Tage vor den Anschlägen vom 11. September Besuch von zwei angeblichen Reportern erhalten hatte – die aber in Wahrheit zwei Selbstmordattentäter von al-Kaida waren. Als er nun begann, nachzurecherchieren, wurden aus den unbekannten Insassen des Vans dann tatsächlich “Araber”.
Zwei Komponenten trugen zu dieser ethnischen “Identifizierung” bei: Ein Longboat-Key-Nachbar namens Marvin P. hatte etwas später, um 8:50 Uhr (also fünf Minuten nachdem das erste Flugzeug ins World Trade Center gerast war – obwohl das zu diesem Zeitpunkt niemand hier wusste), zwei “nahöstlich aussehende Männer” entlang der Strecke beobachtet haben wollen, die Bushs Konvoi zur Emma Brooker Elementary School fuhr, und die aus einem Van heraus mit erhobenen Fäusten “Nieder mit Bush” riefen.
Und zum Zweiten hatte der Reporter gehört (Longboat Key ist eine relativ kleine Gemeinde), dass zwei arabisch aussehende Männer sich in einer nahe gelegene Wohnwagensiedlung namens Twin Shores einquartiert und für ein Jahr die Miete von 9600 Dollar im Voraus bezahlt hatten. Diese Männer waren am 11. September nirgendwo aufzufinden. Und damit war die Story, die am 27. September im Longboat Key Observer erschien, im Wesentlichen erst mal rund: Zwei arabisch aussehende Männer, vermutlich Al-Kaida, hatten unter dem Vorwand, ein Interview mit dem Präsidenten zu haben, Zugang zum Colony-Gelände zu erlangen versucht, vermutlich in der Absicht, ein Attentat auf George W. Bush zu verüben. Auf diese Story aufmerksam gemacht, wurde ich von FOCUS als Reporter nach Sarasota geschickt, um der Sache nachzugehen.
Bisher sind alles noch Fakten beziehungsweise primäre Zeugenberichte. Selbst die Geschichte mit den “Arabern”. Der Haken ist nur, dass es keine primäre Quelle gibt, die diese Araber-Komponente in irgend einer Form (außer einer zufälligen räumlichen und zeitlichen Konjunktion) mit dem Colony-Vorfall verbindet. Aber damit nicht genug: Hier würze ich die Sache nun mit meinen eigenen Zusatzbeobachtungen auf: Longboat Key ist etwa eine Dreiviertelstunde von Venice, Florida, entfernt – und in oder bei Venice hatten zwei der 9/11-Attentäter, Mohammed Atta und Marwan Alshehhi, monatelang gelebt, um Flugstunden zu nehmen. Was der Story den zusätzlichen Dreh hätte geben können, dass dieser “Anschlag” auf Bush ein Teil des 9/11-Komplotts war – und eigentlich der maßgebliche in dem Sinn, dass der Umstand, dass Bush an diesem Tag außerhalb seiner üblichen Sicherheitszone war, für das Timing (über das viel spekuliert wurde – 9-1-1- ist beispielsweise die amerikanische Notrufnummer) ausschlaggebend gewesen sein könnte. Aber zurück zur Story …
Die erste Recherche ergab erst mal ein ernüchterndes Resultat: Die vermeintlichen Araber (einer war tatsächlich Marokkaner) aus dem Twin-Shores-Trailerpark konnten mit der Sache nichts zu tun haben: Die Managerin der Wohnwagenanlage erklärte mir, dass die beiden erstens schon am 1. September zu einer Hochzeit nach Marokko abgereist waren, und zweitens seien sie inzwischen (es war Anfang Oktober) wieder zurück. Auch ansonsten war nicht viel Neues und Zusätzliches zu erfahren: Der Polizeichef John K. bestätigte zwar, dass der Zwischenfall mit dem Präsidentenkonvoi als solcher gemeldet wurde, aber das war’s auch schon.
Nicht ganz. Denn nun kommt die Komponente, die jede Verschwörungstheorie braucht, und um derentwillen ich die Sache überhaupt nur erwähnt hatte: die Vertuschung, oder – um im englischen Jargon zu beiben – der Cover-up. Denn die Auskunftskargheit des Polizeichefs lag nicht nur an mangelnden Informationen: Er sei, so erklärte er mir, von FBI und Secret Service angewiesen worden, sich nicht weiter zu äußern; die beiden Nachrichtendienste hätten auch die bezüglichen Akten an sich genommen. Auch der Vize-Feuerwehrhauptmann gab sich mir gegenüber zugeknöpft: Er stehe zwar zu dem, was er gehört habe, aber mehr wolle er nicht daüber reden, da ihm FBI und Secret Service ganz schön die Hölle heiß gemacht hätten. Auch die Twin-Shores-Managerin war “ergattert” “vergattert” worden – das FBI hatte den Mietvertrag und alle weiteren Unterlagen mitgenommen.
Also ermittelte der Secret Service und das FBI? Davon wollte der Pressesprecher des Secret Service, Mark Connolly, nichts gehört haben. Also habe auch niemand am Morgen des 11. September 2001 unter einem Vorwand versucht, Zugang zum Präsidenten zu erlangen? Wohl nicht, denn “generell muss jedes ungewöhnliche Zeichen von Interesse an einem unserer Schutzbefohlenen vom Secret Service weiter verfolgt werden – etwas anderes steht uns gar nicht frei”. Mit anderen Worten: Wenn so etwas vorgekommen wäre, dann hätte man den Kastenwagen gewiss nicht einfach weggeschickt – ergo ist es auch nicht passiert.
So. Und spätestens hier ensteht eine Informationsdiskrepanz, die für eine “echte” VT einfach unverzichtbar ist – einerseits die Augen- und Ohrenzeugenberichte von seriösen Personen, andererseits das Dementi “nie passiert” von den Behörden. und hier kommt noch ein kleines, aber auch typisches VT-Element dazu: die zeitliche Inkongruenz.
Zeitliche Inkongruenz? Das könnte beispielsweise bedeuten, dass jemand in Deckung geht, noch ehe er/sie wissen kann, dass gleich Schüsse fallen. Oder Personen, die eigentlich erst nach einer Ereignis zum Schauplatz gerufen werden dürften, aber sich bereits vorher einfinden. In diesem Fall war es das Dementi, noch ehe der Vorgang publik wurde: Einer der Wachleute, nennen wir ihn Virgil, hatte seine Schicht etwa zwei Stunden vor der Ankunft Bushs, am Nachmittag des 10. September beendet. Als er dann am folgenden Tag (also nach dem angeblichen Vorfall) zum Dienst erschien, wurden er und seine Kollegen von ihrem Vorgesetzten darüber informiert, dass es sich bei dem Kastenwagen-Zwischenfall um ein unwahres Gerücht handle. Der Haken ist: Das war viele Tage bevor der Artikel im Longboat Key Observer erschien – also bevor das “Gerücht” überhaupt erst in die Welt gesetzt wurde. Was wiederum als Bestätigung interpretiert werden könnte, dass die Sache passiert sein muss und eben nicht einer Reporterfantasie entsprungen ist.
Und nun sind alle Elemente beisammen. In ihrer polierten Endfassung könnte diese “Verschwörungstheorie” etwa so aussehen:
Al-Kaida plant einen großen Kombinationsschlag: Der Präsident, das Weiße Haus, das Pentagon, die Türme des World Trade Center – also die wichtigsten Symbole amerikanischer Macht – sollen auf einen Schlag ausgelöscht werden. Eine Zelle in Florida, die sich dort mit Flugstunden auf die Anschläge vorbereitet, erfährt, dass Bush am 10./11.September 2001 in einem vergleichsweise ungesicherten Hotel in ihrer Nähe übernachten wird. Das macht ihn zu einem erheblich leichteren Ziel, als wenn er sich im Weißen Haus befindet. Damit steht der 11. September als Attentatstermin fest. Neben den Luftanschlägen wird ein weiteres Selbstmordattentäter-Team mit einem Kastenwagen voller Sprengstoff auf das Hotel angesetzt – wenn es nur gelingt, die erste Schranke zu durchbrechen, dann genügt der Sprengstoff (man denke an Timothy McVeigh und Oklahoma City) auch auf Distanz, um das Gebäude, in dem sich Bush aufhält, in Trümmer zu legen. Doch der Plan geht nicht ganz auf: Die Attentäter lassen sich an der Schranke abblitzen, oder erkennen, dass es unmöglich wäre, nahe genug an den Hotelkomplex heranzufahren. Doch sie haben Glück: Der Secret Service macht den Fehler, sie dennoch unbehelligt ziehen zu lassen.
So. Und damit die Tragödie vollends rund wird, hängen wir noch den Schlussgedanken an: “Wer weiß, was passiert wäre, wenn der Secret Service nicht geschlampt hätte – wenn sie die Männer festgehalten und verhört hätten. Vielleicht wäre dann noch Zeit gewesen, das Komplott aufzudecken und die Anschläge zu verhindern.”
Aber dieses ganz Szenario hängt von einem einzigen Faktor ab: Dass tatsächlich zwei Attentäter in dem Kastenwagen saßen. Und dafür gibt es keinen Beweis – eigentlich nicht mal einen Hinweis. Es hätten genauso gut zwei Schüler einer lokalen Oberschule sein können, die den Präsidenten für ihre Schülerzeitung interviewen wollten und nur keine Ahnung hatten, wie sie das einfädeln müssen. Oder zwei Blogger. Und vielleicht waren die beiden Männer, die “Nieder mit Bush” riefen, keine Araber, sondern Lateinamerikaner? Oder aus der Bronx? Wer weiß es zu sagen …
Ohne diese Verknüpfung wär’s aber keine Story. Doch dieses Defizit füllt nun, ungewollt (vielleicht), der Secret Service auf: Das Dementi, gepaart mit einer typischen “Men in Black”-Operation (Beschlagnahme von Unterlagen, Einschüchterung von Zeugen), wirkt überzeugender als jedes Faktum. “Die haben was zu verbergen, also muss was dran sein” – so etwa lautet die Standard-VT-Schlussfolgerung. Und zu verbergen hatte sie gewiss etwas, nämlich die Schlamperei des Teams vor Ort, das den Kastenwagen wegfahren ließ, ohne die Insassen zu überprüfen. Ein ziemlich schwerer Vorwurf, vor allem, wenn man bedenkt, was sonst noch an diesem Tag passiert ist. Das ist, meiner Ansicht nach, der Grund für den Cover-up: Eigene Fehler decken.
Aber was, so frage ich, ist wohl die bessere Geschichte? Denn auch das ist immer ein Element von Verschwörungstheorien: Sie sind eigentlich immer spannender zu erzählen als die oft ungereimten Tatsachen. Keine Zufälligkeiten mehr, keine im Sand verlaufenden Spuren, keine lose herumhängenden Erzählfäden – alles schön verstrickt. Ästhetisch irgendwie befriedigender, nicht wahr? Aber eben nicht unbedingt wahr.
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