Es ist ein makabres Jubiläum: Seit drei Jahrzehnten wissen wir von jener damals noch obskuren Krankheit, deren sperriger Name “Acquired Immunodeficiency Syndrome”, in seiner Abkürzung AIDS (manchmal auch: Aids) inzwischen Jedermann und -Frau ein Begriff ist (oder zumindest sein sollte). Etwa 40 Millionen Menschen sind seither dieser Krankheit erlegen, die sich dank besserer pharmakologischer Versorgung zwar kontrollieren lässt, aber nach wie vor nicht heilbar ist. Ich hatte vor fünf Jahren, aus Anlass des 25. Jahrestages, ein Gespräch mit Dr. Michael Gottlieb geführt, jenem Arzt in Los Angeles, der am 5. Juni 1981 im “Morbidity and Mortality Report” der US- Seuchenkontrollbehörde CDC den ersten wissenschaftlichen Hinweis auf Aids publiziert hatte. Das Interview war bisher noch nicht veröffentlicht worden:
Als Sie den ersten medizinischen Artikel über ein ungewöhnliches neues Krankheitsbild veröffentlichten, das später als Aids bezeichnet werden sollte – ahnten Sie da schon, welche Ausmaße diese Seuche einst annehmen würde?
Wir wussten, dass es ein großes Problem werden würde, aber wir hatten keine Ahnung, wie groß. Dass es 40 Millionen Menschen weltweit treffen würde.
Ihr Artikel beruhte nur auf einer Handvoll Fälle …
Es waren genau fünf Patienten, ja.Und trotzdem sahen Sie schon große Folgen voraus?
Fünf Fälle von schwer kranken Patienten mit unbekannter Diagnose in so kurzer Zeit, das ließ natürlich vermuten, dass es noch viel mehr solcher Fälle geben musste.Worauf waren Sie damals spezialisiert? Aids-Spezialisten konnte es ja noch keine geben.
Ich war ein klinischer Immunologe an der Uniklinik der UCLA in Los Angeles. Ich wurde routinemäßig konsultiert, wenn Patienten mit unklarer Diagnose, deren Krankheitsursache also nicht auf Anhieb erkennbar war, behandelt wurden. Und darum wurde ich auch einbezogen, als der erste dieser Patienten mit einer schweren Lungenentzündung in die Notaufnahme eingeliefert wurde. Es war in gewisser Weise also ein reiner Zufall, dass er ausgerechnet in ein akademisches Zentrum kam, wo wir an Ort und Stelle waren. Als andere Ärzte von diesem Fall erfuhren, überwiesen sie vier weitere Patienten mit vergleichbaren Symptomen an uns.Heißt das, dass es schon vorher Fälle gegeben haben könnte, die von den behandelnden Ärzten nur nicht erkannt wurden?
Die gab es ganz bestimmt. Nach der Publikation des Artikels erfuhr ich von vielen Ärzten, dass sie schon Monate vorher vergleichbare Fälle behandelt hatten.
Doch obwohl all diese Patienten innerhalb weniger Monate starben, schien sich zumindest die Öffentlichkeit kaum dafür zu interessieren. Die Resonanz in den Medien damals steht jedenfalls in keinem Vergleich zu der Aufregung, die Krankheiten wie Sars oder die Vogelgrippe heute auslösen können. Warum eigentlich?Es war eine andere Zeit. Die Öffentlichkeit war über Krankheiten einfach weniger aufgeklärt – und vielleicht auch nicht so sehr daran interessiert. Und dann kam noch dazu, dass es sich um Homosexuelle handelte, die damals am Rand der Gesellschaft standen, im Gegensatz zu heute.
Aber auch die Reagan-Regierung ignorierte das Aids-Problem. Reagans späterer Regierungssprecher Pat Buchanan hatte 1983 sogar ganz unumwunden erklärt, dass Aids die Rache der Natur an den Homosexuellen sei.
Reagans innenpolitischer Berater damals war Gary Bauer, ein religiöser Konservativer, der das Ignorieren von Aids zu einem Bestandteil der innenpolitischen Agenda gemacht hatte.
Hätte eine andere Einstellung der Regierung damals helfen können, die explosionsartige Ausbreitung von Aids zu bremsen?
Ich denke schon. Tausende, wenn nicht sogar Zehntausende hätten eine Chance bekommen, Aids zu verhüten.
Allerdings hatte auch mangelndes Wissen viel zu seiner Ausbreitung beigetragen. So glaubten anfangs viele, dass nur Männer an dieser Krankheit sterben müssten.
Es gab eine große Scheu, über die Krankheit zu reden – auch, weil man nicht viel darüber wusste. Es dauerte ja allein drei Jahre, bis das verantwortliche Virus entdeckt und als Ursache akzeptiert wurde.
Aber Sie hatten doch von Anfang an ein Virus im Verdacht?
Ja, aber das war nur eine Vermutung. Ich hatte auf das Zytomegalievirus (CMV, ein Herpes-Virus, d.Red.) getippt – aber das war nicht die Ursache, sondern nur eine Begleiterscheinung der Krankheit.Ihre Kollegen lehnten die Virus-Hypothese allerdings erst mal ab.
Na ja, die CMV-Hypothese lag ja auch wirklich daneben. Aber wir Immunologen waren sicher, dass nur ein Virus in der Lage sein konnte, die T-Zellen und das ganze Immunsystem in diesem Ausmaß schädigen konnte. Doch damals war kein Virus bekannt, das speziell die T-Zellen des Immunsystems schädigen konnte. Erst als auch Bluter im Jahr 1982 infiziert wurden, fand die Virus-Hypothese breitere Zustimmung.
Aber nun sind es mehr als 20 Jahre, und für viele Virus-Erkrankungen hätte in dieser Zeit eine Impfung gefunden werden können. Was ist anders am Aids-Virus?HIV kämpft nicht fair. Es ändert sich dauernd. Wer einen Impfstoff entwickeln will, muss wissen, worauf er zielt – HIV ist aber ein bewegliches Ziel. Es verändert sich, vergleichbar dem Influenza-Virus.
Erst fünfzehn Jahre nach der Entdeckung der Krankheit wurden Behandlungsmethoden gefunden, die das Leben der Patienten zumindest nennenswert verlängern konnten. Das heißt, eineinhalb Jahrzehnte lang war jeder Patient, den Sie behandelten, dem sicheren Tod geweiht.
Ja, das war sehr entmutigend.
Hatten Sie manchmal daran gedacht. alles hinzuschmeißen?
Wir hatten einen Hoffnungsschimmer, als 1987 AZT entwickelt wurde. Der Umstand, dass es etwas gab, das – wenn auch nur für kurze Zeit – das Leben der Patienten verlängern konnte, hat uns die Hoffnung gegeben, dass wir noch wirksamere Therapien finden würden. Aber ohne AZT wäre es für mich schwer gewesen, weiter zu arbeiten.Welche anderen Meilensteine gab es im Lauf Ihrer Arbeit?
Erst mal die Anerkennung 1982, dass ein Virus die Ursache sein musste, und dann, ein Jahr später, die Entdeckung des Virus durch Francoise Barre am Pariser Pasteur-Institut. Daneben würde ich die Entwicklung des Aidstests nennen, dann AZT, und schließlich auch Rock Hudson, der 1985 seine Aids-Erkrankung öffentlich machte und sie damit ins Bewusstsein der Leute brachte. Der nächste große Schritt kam dann erst wieder 1995 mit der hochaktiven anti-retroviralen Therapie HAART. Und dann ist natürlich die Entdeckung von Aids in Afrika zu nennen, wo es zwar 1983 zum ersten Mal beschrieben, aber lange Zeit nicht erkannt wurde, sondern statt dessen als Slim-Disease abgehandelt wurde. Ich selbst habe auch lange gebraucht, biss ich begriff, dass es sich hier um die gleiche Sache handelte.
Wenn man sich die explosionsartige Ausbreitung von Aids in Afrika und Asien anschaut, muss man sich fragen, ob sich diese Krankheit jemals bewältigen lässt.Ach du meine Güte, ja. Unsere Hauptprobleme liegen zurzeit darin, dass die meisten Menschen erstaunlich wenig über HIV wissen. Wussten Sie beispielsweise, dass Millionen von Menschen keine Ahnung haben, ob sie infiziert sind oder nicht? Die meisten der geschätzten 40 Millionen Aids-Infizierten weltweit wurden nie getestet, weil selbst für so etwas simples wie einen Aidstest die Mittel fehlen. Der erste Schritt muss erst mal sein, dieses Problem zu überwinden und die weitere Ausbreitung dadurch einzudämmen. Ich habe immer noch Hoffnung – nein, ich rechne fest damit, dass ein Impfstoff entwickelt werden kann.
Sind wir solch einem Impfstoff im vergangenen Jahrzehnt denn in irgend einer Weise näher gekommen?
Ohne Zweifel. Sicher nicht in der Form, dass ein spezifischer Wirkstoff gefunden wurde. Aber die Forscher, die daran arbeiten, wissen inzwischen viel genauer, worauf sie achten müssen, wenn sie einen Impfstoff entwickeln wollen.
Auf der anderen Seite haben die Medikamente, die Aids zu einer behandelbaren Krankheit machen, offenbar das Risikobewusstsein wieder verschlechtert. Es scheint, dass vor allem junge Menschen glauben, es genüge, ein paar Pillen zu schlucken, und ansonsten könne man so weiter leben wie zuvor.
Wer glaubt, dass er mit Aids leben kann, der sollte sich klar machen, dass das Leben nach einer Aids-Diagnose nie mehr so sein wird wie vorher. Alles ändert sich. Es ist nicht so, dass man ein paar Spritzen bekommt und dann geht’s einem gleich besser. Ich kann nicht begreifen, wie ein junger Mensch es für akzeptabel halten kann, sich mit etwas zu infizieren, das ihn zwingt, für den Rest seines Lebens Medikamente zu schlucken. Sicher, wer heute mit der Aids-Therapie beginnen muss, hat vermutlich noch Jahrzehnte zu leben – aber es ist ein schweres Leben, voller Pillen, gesellschaftlicher Ablehnung und der ständig lauernden Angst vor Komplikationen. Und was geschieht, wenn die Medikamente ihre Wirksamkeit verlieren?
Woran arbeiten Sie selbst derzeit?
Ich widme mich sowohl der klinischen Versorgung von Patienten als auch der Forschung nach besseren Medikamenten.
Die Bush-Regierung* hat gelobt, 15 Milliarden Dollar in die Aids-Bekämpfung zu stecken. Ist davon schon etwas zu spüren?
Die Bereitschaft der Regierung, etwas zu tun, hat sich in den vergangenen Jahren spürbar verbessert. Selbst der konservative Senator Jesse Helms, der 20 Jahre lang alle Präventionsprogramme aus Abneigung gegen Homosexualität behindert hatte, hatte kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Senat im Jahr 2002 für Aidshilfe in Afrika appelliert. Es ist ironisch, dass es erst zu einer globalen Ausbreitung der Gefahr kommen musste, damit sich unsere Regierung zuständig fühlt. Von diesem Enthusiasmus war in den 80-ern und frühen 90-ern wenig zu spüren, als Aids noch ein inneramerikanisches Problem zu sein schien. Erst auf diesem Umweg hat sich die Forschungs-Finanzierung schließlich doch noch verbessert.
* Zur Erinnerung: Das Interview wurde im Mai 2006 geführt
Abb.: ChristianHeldt [Public domain], via Wikimedia Commons
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