Muss ich den Begriff Dilemma erklären (hier hilft Wikipedia)? Das Dilemma, um das es hier geht, ist ein ziemlich unerquickliches, aber nicht minder grundsätzliches: Sollen/dürfen Ärzte bei Hinrichtungen assistieren? Beide Antworten – ja sowohl als auch nein – haben gute Gründe, die für sie sprechen, und große Probleme, die sie nach sich ziehen. Sind also ein klassisches Dilemma.

Erst mal die “Vorbemerkung in eigener Sache”: Ich bin kategorisch und uneingeschränkt gegen die Todesstrafe. Dass manche diese Meinung nicht teilen, ist mir klar. Aber dass ich wiederum deren Meinung nicht teilen muss, ist ebenso klar. Dieser Beitrag soll keine Grundsatzdiskussion zum Thema Todesstrafe nach sich ziehen – ich werde mir hier vorbehalten, gegebenenfalls moderierend Kommentare auszublenden, die nur dazu dienen; Gegner und Befürworter der Todesstrafe pauschal als Idioten hinzustellen. Denn für die folgenden Betrachtungen ist es essentiell, die Todesstrafe als Faktum zu akzeptieren – ob sie uns passt oder nicht, sie ist in den USA (und anderen Ländern, aber ich begrenze mich hier auf die US-Praxis) geltendes Recht.

So, nun also zum Dilemma, auf das ich durch diesen Bericht des Hastings Center aufmerksam wurde: In 33 von 34 US-Bundesstaaten, in denen die Todesstrafe vollzogen wird, ist eine Partizipation von Ärzten bei der Vorbereitung und/oder Durchführung der Exekution ausdrücklich vorgeschrieben. Doch dies kollidiert mit den Statuten einiger medizinischen Standesorganisationen: Die American Medical Association, beispielsweise, erklärt in ihrem Ehrencodex:

A physician, as a member of a profession dedicated to preserving life when there is hope of doing so, should not be a participant in a legally authorized execution.
Ein Arzt, als Mitglied eines Berufsstandes, der sich dem Erhalten von Leben, so es Hoffnung gibt, dies zu erreichen, verschrieben hat, sollte kein Teilnehmer an einer gesetzlich authorisierten Hinrichtung sein.

Dies ist zwar nur eine Empfehlung, und in der Praxis folgen so gut wie nie irgend welche Sanktionen, doch zumindest ein Fall ist aktenkundig, in dem einem Arzt die Mitgliedschaft in seiner Ärztekammer aufgekündigt wurde. Doch im Februar 2010 hat die US-Kammer der Narkoseärzte (American Board of Anesthesiology) beschlossen, jedem Anästhesiologen, der sich an Exekutionen beteiligt, die Zertifizierung zu verweigern/entziehen:

anesthesiologists may not participate in capital punishment if they wish to be certified by the ABA.

. Und das ist schon drastischer: Ohne den Nachweis seiner Fachqualifikation (board certification, was etwa der Facharztprüfung entspricht) wird kein Narkosearzt eine Anstellung in einem Krankenhaus finden können.

Hier also ist das Dilemma: Wenn Ärzte sich an Todesstrafen beteiligen, dann helfen sie, einem Idividuum schweren Schaden zuzufügen – das widerspricht der Standesehre (“Hippokratischer Eid“). Doch wenn sie ihre Dienste nicht zur Verfügung stellen, dann besteht das sehr konkrete Risiko, dass dem Hinzurichtenden unmenschliche und vermeidbare Qualen zugemutet werden – auch das widerspricht aber dem ärztlichen Ethos. Eine Verweigerung wäre sicher vertretbar, wenn damit ein längerfristiges Ziel – zum Beispiel die Abschaffung der Todesstrafe, da sie nicht mehr praktiziert werden kann – erreicht werden könnte. Doch dafür gibt es nicht nur keine Anzeichen – das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten hatte in seiner Entscheidung Baze vs. Rees keinen Grund gefunden, die Teilnahme eines Arztes zur Voraussetzung einer Hinrichtung zu machen. Und hingerichtet wird in den USA auch weiterhin – im vergangenen Jahr wurden immerhin noch 40 Todesurteile vollstreckt. Zwar ist die Tendenz rückläufig (primär aber aus wrtschaftlichen, nicht aus juristischen Gründen, siehe Downsizing in der Henkerstube), aber von einer Abschaffung sind die USA immer noch weit entfernt.

Wenn aber nun hingerichtet wird, egal ob mit oder ohne ärztlichen Beistand – wie ethisch ist es dann, dem “Patienten” (und – mit ein bisschen Abstraktion – kann man auch den Todeskandidaten als solchen sehen) unnötig leiden zu lassen? Wenn man so streng argumentiert, dann muss man auch die Palliativmedizin verbieten, da auch diese nicht mehr das Leben des Patienten retten kann. Andernfalls ist die Logik nicht nachvollziehbar, warum einem Sterbenden (dem Todeskandidaten) diese Hilfe verweigert wird, die einem anderen (dem unheilbaren Krebspatienten) selbstverständlich zugestanden wird.

Andererseits: Wenn es dem Gesetzgeber nicht gelingt, seine eigenen Ansprüche – in den USA die Vorschrift, dass Hinrichtungen nicht “grausam oder unüblich” sein dürfen – zu erfüllen, ohne Dritte zum Verstoß gegen ihre ethischen Grundsätze zu zwingen, dann muss er vielleicht wirklich über diese Ansprüche nachdenken. Denn dazu, dem Gesetzgeber zu helfen, verpflichtet der – symbolisch gemeinte – hippokratische Eid garantiert nicht.

Ich persönlich neige dazu, den Ärzten zwar eine starke Lobbyarbeit gegen die Todesstrafe zu empfehlen, aber im Einzelfall nicht zu verbieten, das dann sowieso unvermeidliche Leid zu lindern. Man muss ja nicht gleich bei der ersten Anfrage freidig “hier” rufen …

flattr this!

Kommentare (28)

  1. #1 Dagda
    9. Juni 2011

    Ich glaube der Vergleich mit der Palliativmedizin hinkt, den auch in der Palliativmedizin geht es um die Behandlung des Patienten und das meint mehr als eine Linderung der Qualen, und eine Erleichterung des Sterbens, man kann das auch ganz gut am Wikipediaeintrag sehen:

    Nicht die Verlängerung der Überlebenszeit um jeden Preis, sondern die Lebensqualität, also die Wünsche, Ziele und das Befinden des Patienten stehen im Vordergrund der Behandlung.

    Interessanter wäre ja ein Vergleich mit assistiertem Suizid; denn genau da geht es ja auch um einen möglichst leichten Tod (leicht im Sinne von einfach und möglichst ohne Leiden.

  2. #2 CHR
    9. Juni 2011

    Sicherlich ein heißes Eisen. Aber ich sehe das Dilemma nicht wirklich, was damit zu tun hat, dass ich nicht über das nötige Abstraktionsvermögen verfüge, welches hier angedeutet wird. Die Sache ist doch relativ klar, auch ohne gleich deontologische, utilitaristische und andere Argumentationsansätze ins Feld führen zu müssen.

    Der Einsatz der Ärzte und Ärztinnen zum Wohle der Patienten steht meines Erachtens bei der Todesstrafe einer gänzlich anderen kausalen Situation gegenüber: Sie werden Teil eines Prozesses, an dessen Ende der Tod stehen soll, welcher allerdings nicht unvermeidlich ist, was alleine darin begründet liegt, dass die Gefahr für das Leben von Menschen (Richter, Henker etc.) ausgeht und nur besteht, solange diese den Willen und die Mittel haben, eine solche darstellen zu wollen oder zu müssen. Die zu behandelnde “Krankheit” ist insofern eine legale oder soziale, keine medizinische. Im Vergleich zur Palliativmedizin ist der Tod durch Unterlassung der Handlung zu vermeiden, bei der Palliativmedizin selbst unter Einsatz aller verfügbaren Mittel nicht zu verhindern.

    Meiner Ansicht nach führt das dazu, dass Ärzte, wenn wir schon bei Todeskandidaten von “Patienten” ausgehen, noch immer die “Krankheit” heilen müssten, welche natürlich letztlich in einem politisch-juristischen Apparat besteht, der den Einzelnen nahezu machtlos zurücklässt. Allerdings nicht so machtlos, wie eine tatsächliche, heute unheilbare Krankheit. Deshalb glaube ich, dürften Ärzte nicht anstandslos an dem eigentlich – aus medizinischer Sicht – vermeidbaren Tod teilhaben.

  3. #3 A.S.
    9. Juni 2011

    Mittels dieser Argumentation ließe sich aber auch eine Verpflichtung für Ärzte ableiten, bei Auftragsmorden zu assistieren: (i) Auftragsmorde sind ein Fakt und werden durchgeführt, mit oder ohne ärztlichen Beistand; (ii) Ärzte können das nicht verhindern, aber sie könnten helfen, das Leiden der Mordopfer während der Ausführung des Auftragsmordes zu minimieren; (iii) Ärzte sollten Opfern von Auftragsmorden nicht die Hilfe verweigern, die sie jedem anderen Sterbenden selbstverständlich zugestehen.

  4. #4 Jürgen Schönstein
    9. Juni 2011

    @A.S.
    Dass ich hier den advocatus diaboli spiele, ist hoffentlich klar. Und wie ich schon gesagt habe: Aus meiner Sicht gibt es keine Rechtfertigung für die Todesstrafe, das habe ich in meinem Blog schon mehrfach und nachdrücklich verteidigt. Aber im Gegensatz zum Auftragsmord ist die Todesstrafe halt ausdrücklich vom Gesetz sanktioniert, und wird von genau den Institutionen verhängt, die zur Definiotn dessen was “rechtmäßig” ist, etabliert wurden. Und nochmal: Damit verteidige ich nicht das juristisch usurpierte Recht, einen Menschen zu töten. Aber es spielt nun mal keine Rolle, was ich davon halte: Noch immer ist in den USA eine Bevölkerungsmehrheit für die Todesstrafe; selbst progressivere Politiker wie Hillary Clinton oder – jawohl, auch der – Barack Obama sind zumindest im Grundsatz für die Beibehaltung, wenn auch mit mehr Sicherheitschecks gegen Justizirrtümer.

    Und die Legalität/Illegalität eines Handels ist sicher ein wichtiges Kriterium bei der Prüfung des eigenen (i.d.F. der Ärzte) Verhaltens. Daher muss ich den Mordvergleich (so sehr ich ihn nachvollziehen kann) aus Gründen der logischen Stringenz ablehnen.

    @Dagda
    Natürlich hinkt der Vergleich mit der Palliativmedizin – aber nur ein bisschen. Es geht mir im Prinzip darum, dass der “hippokratische Eid” (ich muss diesen Begriff in Anführungszeichen setzen, da es diesen “Eid” ja gar nicht gibt – er ist eine Metapher) nicht wirklich geeignet ist, ein Verbot ärztlicher Beihilfe bei der Todesstrafe zu begründen. Denn der Arzt würde ja nicht die Giftspritze setzen, sondern vor allem die korrekte Dosierung und Anwendung des Narkosemittels kontrollieren. Das ist natürlich eine spitzfindige Definition, aber es geht ja hier um Ärzte, die sich freiwillig dazu melden (kein Arzt kann, auch von den US-Gesetzen, dazu gezwungen werden).

    @Alle
    Ich finde, dass Ärzte aus moralischer Überzeugung die Beihilfe zum juristisch begründeten Töten verweigern sollten, und sich eben nicht auf den Standpunkt “ohne uns, aber ansonsten bitte gerne” (und auf den läuft es halt letztlich raus) zurückziehen sollten. Denn letzterer führt wirklich nur dazu, dass die Hinrichtungen qualvoller werden – vom Supreme Court ist hier auf absehbare Zeit (in ein paar Jahrzehnten, mit neuen Richter vielleicht) kein Umdenken und -lenken zu erwarten. Aber so lange sie das als Gremium (=Lobby) nicht tun, müssen sie auch die Konsequenzen ihres Handelns akzeptieren. Und da sehe ich schon das Dilemma. Was soll der Arzt tun, wenn der Verurteilte – der sich mit der Unvermeidlichkeit seines Todes ab einem gewissen Zeitpunkt abfinden muste – um seinen Beistand bittet?

  5. #5 Dagda
    10. Juni 2011

    @ Jürgen Schönstein
    Stimmt natürlich und ich finde die ständige Berufung auf den Hippokratischen Eid immer wieder schwierig. (Weil es sicherlich immer um eine Metapher geht, der Eid selber aber einfach kein gutes Leitbild für einen Arzt ist und dem modernen ärztlichen Selbstverständnis widerspricht).
    Aber immerhin stellt sich die AMA auch gegen assistierten Suizid, bei der sich das gleiche Problem stellt. (Leben bewahren vs. Leiden lindern auch die Beziehung zur Palliativmedizin erweitert um das Problem der Patientenautonomie )

  6. #6 Dr. Webbaer
    10. Juni 2011

    Ich persönlich neige dazu, den Ärzten zwar eine starke Lobbyarbeit gegen die Todesstrafe zu empfehlen, aber im Einzelfall nicht zu verbieten, das dann sowieso unvermeidliche Leid zu lindern.

    Mit so einer Sicht ließe sich auch und gerade der Einsatz von Medizinern bei der Folter rechtfertigen – damit gesundheitliche und psychische Folgeschäden bestmöglich verhindert werden. Dr. W will Ihnen in der Sache nicht widersprechen, nur in der Logik.

    MFG
    Dr. Webbaer

  7. #7 Bey
    10. Juni 2011

    Für den Ablauf der Hinrichtung benötigt man keinen Arzt.
    Alles, was für diesen Vorgang getan werden muss, können andere erledigen.
    Kanülen legen, Dosen errechnen, Infusionen auswählen und anhängen, Schlauchverbindungen stecken, Knöpfchen drücken – das können auch die Vollzugsbeamten.

    Ein Arzt, der einer Hinrichtung beiwohnt, ist für mich kein Arzt mehr.
    Es ist nicht der Wunsch des Verurteilten, zu sterben.
    Es ist der Wunsch der Justiz.
    (Würde der Verurteilte um die Tötung bitten – also um eine Beihilfe zur Selbsttötung – dann wäre das (für mich) eine ganz andere Sache. Und ein ganz anderes Thema.)

    Die Justiz – ein Dritter – verlangt die Tötung. Entgegen dem Wunsch des Verurteilten.

    Ein Arzt darf an einem Menschen keine Maßnahme (nicht einmal eine schmerzlose Untersuchung) vornehmen, wenn dessen Einverständnis zu dieser Maßnahme fehlt.

    Die freie Selbstbestimmung des Menschen zu achten, ist eins der obersten Gebote ärztlichen Handelns. (So kommt es, dass er u.U. eine lebenswichtige Maßnahme zu unterlassen gezwungen ist, wenn sein Patient diese ablehnt.)
    Ein Arzt wird von seinem Patienten beauftragt – und nur von ihm.
    Ein Dritter – auch keine staatliche Gewalt – darf einem Arzt eine Maßnahme an einem Menschen anordnen, wenn dieser mündig ist.
    Daher wird das Gift nicht von Ärzten verabreicht.

    Als Zeuge dieses Vorgangs sollte ein Arzt diese zu verhindern suchen, wenn der Verurteilte ihn (von seiner Liege aus oder zuvor) darum bittet.
    Lehnt der Arzt ab, verweigert er dem Betroffenen die Hilfe, die medizinisch notwendig wäre. Nach deutschem Recht darf der Arzt ablehnen – im Sinne einer PROPHYLAXE.

    Kein Mensch – auch kein Arzt – ist verpflichtet, im NOTFALL Hilfe zu leisten, falls damit eine Gefährdung für die eigene Gesundheit verbunden ist.
    Ist eine solche Eigengefährdung nicht gegeben, ist jedermann zur Hilfeleistung verpflichtet. (Auch wenn eine Unterlassung nicht strafbar ist – die Verpflichtung besteht dennoch.)
    (Dem Arzt droht keine Gefahr für seine Gesundheit, wenn er Hilfe leistet.
    Er wird abgeführt. Er bekommt womöglich ein Verfahren an den Hals wegen der Behinderung staatlicher Organe.)

    Phhh…ist das nun ein Notfall?
    Für den “Patienten” auf jeden Fall.
    Für den Arzt wird es ein med. Notfall, sobald er erkennen kann, dass die Vitalfunktionen des Menschen sich verschlechtern.

    aus der
    “Berufsordnung für die DEUTSCHEN Ärztinnen und Ärzte (Stand 2006):

    § 2 Allgemeine ärztliche Berufspflichten

    (1) Ärztinnen und Ärzte üben ihren Beruf nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus. Sie dürfen keine Grundsätze anerkennen und keine Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit ihren Aufgaben nicht vereinbar sind oder deren Befolgung sie nicht verantworten können.

    (4) Ärztinnen und Ärzte dürfen hinsichtlich ihrer ärztlichen Entscheidungen keine Weisungen von Nichtärzten entgegennehmen.

    II. Pflichten gegenüber Patientinnen und Patienten

    § 7 Behandlungsgrundsätze und Verhaltensregeln

    (1) Jede medizinische Behandlung hat unter Wahrung der Menschenwürde und unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte der Patientinnen und Patienten, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, zu erfolgen.

    (2) Ärztinnen und Ärzte achten das Recht ihrer Patientinnen und Patienten, die Ärztin oder den Arzt frei zu wählen oder zu wechseln. Andererseits sind – von Notfällen oder besonderen rechtlichen Verpflichtungen abgesehen – auch Ärztinnen und Ärzte frei, eine Behandlung abzulehnen. …

    Das ist natürlich deutsches Recht…
    Ein USAmerikanisches Korrelat gestaltet sich anders.
    Auch hier stützen sich die “Medical Ethics” auf die Genfer Konventionen, Nürnberger Prozesse, auf den Eid des Hippokrates u.a. Texte, die sich in nicht widersprechen.
    Unter anderem was die Einwirkung “Dritter” betrifft (hier: “Genf”), besteht Übereinstimmung:
    I will not permit considerations of age, disease or disability, creed, ethnic origin, gender, nationality, political affiliation, race, sexual orientation, social standing or any other factor to intervene between my duty and my patient….

    Ist der Arzt wirklich ARZT, unterwirft er sich daher nicht den Anordnungen Dritter.
    Sondern entweder dem freien Willen des Patienten (indem er seinen Behandlungsauftrag annimmt) oder/und der Verpflichtung, bei einem medizinischen Notfall einzugreifen.
    Er muss handeln: Er wird die Hinrichtung entweder unterbrechen (Notfall) oder versuchen, sie zu verhindern (Prophylaxe).

    Dazu braucht es sicher eine Menge Courage – aber ein Dilemma sehe ich hierin nicht.

    Im Dilemma befindet sich nur der “medical doctor”, der einer Hinrichtung tatenlos zusieht.
    Dieser ist für mich kein Arzt (mehr).

    Selbst wenn die ärztliche Leistung allein darin besteht, den Tod festzustellen – ich könnte es nicht tun, es nicht mit meinen Gewissen verantworten.

    Ich denke, die Ärzte täten gut daran, sich diesem Todesakt komplett zu entziehen – oder sich aktiv daran zu beteiligen, indem sie ihn zu verhindern versuchen, bis man sie gewaltsam entfernt.
    Nach dem Motto:
    Mit MIR nicht!
    Oder:
    MIT mir: NICHT!

  8. #8 Dagda
    10. Juni 2011

    @ Bey
    So einfach ist das nicht. Es gibt für das Recht auf körperliche Unversehrtheit rechtliche Einschränkungen, so können Blutabnahmen oder andere medizinische Maßnahmen von Richtern angeordnet werden.
    Das Recht auf Selbstbestimmung wird durch das Strafgesetz beschränkt.

  9. #9 Grundumsatz
    10. Juni 2011

    Doch wenn sie ihre Dienste nicht zur Verfügung stellen, dann besteht das sehr konkrete Risiko, dass dem Hinzurichtenden unmenschliche und vermeidbare Qualen zugemutet werden

    Der wichtige Teil ist “Risiko”. Auf der einen Seite besteht eine gewisse Möglichkeit, dass der Kandidat mehr leidet als nötig. Auf der anderen Seite steht die sichere Hilfe bei der Tötung eines Menschen. (Und angesichts der Tatsache, dass es Justizirrtümer/Fehlurteile gibt, töten die Ärzte mit Sicherheit irgendwann auch Unschuldige.)

    Ich sehe da kein großartiges Dilemma.

  10. #10 Marcel
    10. Juni 2011

    > Ein Arzt darf an einem Menschen keine Maßnahme (nicht einmal eine schmerzlose
    > Untersuchung) vornehmen, wenn dessen Einverständnis zu dieser Maßnahme fehlt.

    Wenn man das so streng sieht, dann darf auch kein Arzt sich an einer erzwungenen Blutabnahme zur Alkoholbestimmung beteiligen. Dies passiert aber nat. auch in Deutschland so. Zwar gehts für den so behandelten “Patienten” um viel weniger, aber die Blutabnahme ist erstmal genauso gegen dessen Willen wie die Durchführung einer Todesstrafe.

    Letztendlich ist dies alles eine recht persönliche, moralische Frage für den Arzt. Und ich neige auch zu der Auffassung, daß Ärzteverbände hier nur eine ggf. starke Empfehlung aussprechen sollten.

  11. #11 JLN
    10. Juni 2011

    @Webbaer: Bei Folter gilt wieder dasselbe wie beim Auftragsmord: sie ist illegal, also hinkt der Vergleich. Und bevor Sie jetzt versuchen, sich mit Guantanamo herauszureden: die USA haben die Genfer Konventionen und die UN-Antifolterkonvention ratifiziert, und damit ist Guantanamo auch in den USA illegal, und G.W. Bush und Dick Cheney gehören als Kriegsverbrecher angeklagt.

  12. #12 A.S.
    10. Juni 2011

    Die Legalität spielt in diesem Zusammenhang bestenfalls eine marginale Rolle, insofern, als Ärzte sich der Hilfe bei der Folter oder bei einem Auftragsmord möglicherweise mit dem Argument entziehen könnten, dass sie sich selbst der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen und dass ihr Wunsch, dies zu vermeiden, höher zu werten ist als der Wunsch des Folter- oder Mordopfers nach einer Minimierung seines Leidens.

    Das Kernargument bleibt aber unberührt, denn es ist ein moralisches: Ärzte sollen Leiden mindern, egal, wodurch dieses Leiden entsteht. In diesem Sinne besteht kein Unterschied zwischen einer legalen Hinrichtung, einer Foltersitzung mit ungeklärtem legalen Status und einem illegalen Auftragsmord.

    Und tatsächlich ist es ja eine interessante Frage, wie wir das Handeln eines Arztes beurteilen würden, der sich ohne eigenes Zutun in einer Situation wiederfindet, in der er einen Mord nicht verhindern kann und sich dann entscheidet, mit schmerz- und angstreduzierenden Mitteln das Leiden des Mordopfers mindert. Ich halte es für durchaus denkbar, dass man zu einer positiven Bewertung käme.

    Bei einer Hinrichtung kommt aber noch hinzu, dass der Arzt sich freiwillig in eine Situation begibt, in der er weiß, dass er in eine moralische Zwangslage geraten wird.

  13. #13 CHP
    10. Juni 2011

    Das Dilemma ist doch hinfällig, wenn die Partizipation von Ärzten bei der Exekution ausdrücklich vorgeschrieben ist. Denn dann kann die Exekution ja nur stattfinden wenn Ärzte mitarbeiten.

  14. #14 Jürgen Schönstein
    10. Juni 2011

    @CHP
    Das war ja der Wunsch/die Zielvorstellung der American Medical Association. Doch diese Hoffnung wurde durch den Supreme Court in der Entscheidung Baze vs. Rees ausgehebelt: Es gibt keinen verfassungrechtlichen Grund (und damit auch kein größeres legislatives Hindernis), warum eine Hinrichtung nicht auch ohne ärztliche Beteiligung stattfinden darf.

    @A.S.
    Das ist alles richtig. Es ging mir hier vor allem erst mal um die Betrachtung der moralischen Zwangslage an sich. Und die Frage ist halt: Obliegt diese Entscheidung dem Arzt selbst, oder darf eine Standesorganisation ihm hier vorschreiben, wie er sich zu verhalten hat – selbst wenn dies dann von seinem eigenen moralischen Kompass abweicht?

  15. #15 Schmidts Katze
    10. Juni 2011

    Eigentlich ist es ganz einfach:
    Der Arzt darf nur eingreifen, wenn er den Hinzurichtenden als Patienten begreift; und dann muss er als erstes den Katheter entfernen, durch den die Infusion verabreicht werden soll, wenn sie dem Patienten schadet.
    Ansonsten sollte er sich nicht Arzt nennen, sondern Henker mit ärztlicher Ausbildung.

  16. #16 Schmidts Katze
    10. Juni 2011

    Ergänzung:
    Davon kann ihn nur sein Patient entbinden.

  17. #17 Bey
    10. Juni 2011

    Zur Blutabnahme ohne Zustimmung des zu Untersuchenden…

    Nein, Dagda, einfach ist es nicht.

    Ein Arzt – es sei denn er ist Amtsarzt – muss eine Blutentnahme für die Kollegen von der Polizei zu Gerichtszwecken nicht durchführen. Aber fast alle tun es dennoch.

    Eine solche Blutabnahme dient der Feststellung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. Hier werden Menschen von der Polizei aus dem Verkehr gezogen, weil der begründete Verdacht eines Missbrauchs z.B. von Drogen oder Alkohol vorliegt. Dem Arzt muss geschildert werden, dass körperliche Anzeichen vorlagen, die den Einfluss von Alk/Drogen (u.a.) nahelegen. Es sei denn er findet beim Check des Menschen selbst solche Anzeichen.

    Die Mitarbeit bei der Verfolgung von Straftaten hat eine ganz andere ethische Bedeutung für sehr viele Ärzte: Ein besoffener oder bekiffter oderoderoder Mensch hat ein großes Potential, anderen Menschen sowie sich selbst Leben oder Gesundheit zu zerstören.

    Und da sich ein Arzt auch für die Gesundheitsfürsorge vieler Menschen z.B. seines Einzugsgebietes verantwortlich fühlt – und auch darüber hinaus Schaden von jedem Individuum sowie der Gesellschaft abwenden soll…fällt es nicht schwer, einem zeternden Menschen etwas Blut zu rauben.
    Vergessen wir nicht: Da schreit jemand Zeter und Mordio über eine winzige Verletzung, die er erleiden soll – jemand, dem es scheißegal ist, dass er fünfzehn Kilometer zurück beinah jemanden über den Haufen gefahren hat.

    Diese Untersuchung im Rahmen der Strafverfolgung dient dem Schutz der Gemeinschaft. Und des Betroffenen.

    Und ist natürlich eine ganz, ganz andere Liga als:
    Eine Exekution.

    Der internierte Verurteilte stellt für niemanden eine Gefahr mehr da.
    Die Gefahr für die Gesellschaft vermindert sich nicht, wenn man ihn tötet.

    Weil der Arzt weder ein Individuum schützt, noch die Gemeinschaft, noch beide zugleich –
    hat er bei Hinrichtungen nichts verloren.

  18. #18 Dr. Webbaer
    10. Juni 2011

    @JLN

    Bei Folter gilt wieder dasselbe wie beim Auftragsmord: sie ist illegal, also hinkt der Vergleich.

    Versuchen Sie bitte die Logik zu verstehen: Weder ist die Folter in einigen Staaten illegal, noch die Todesstrafe. – Zur Sache selbst hat Dr. W nichts angemerkt, kA auch was das jetzt mit Gitmo und den “Kriegsverbrechern” soll.

    MFG
    Dr. Webbaer

  19. #19 JLN
    10. Juni 2011

    @Webbaer: Die Todesstrafe ist, mit Einschränkungen, menschenrechtskonform. Folter ist es nicht. Die Genfer Konvention von 1949 ist universell anerkannt und verbietet die Folter für Kriegsgefangene. Die Menschenrechtskonvention der UNO, die fast universell anerkannt ist (mit nur zwei nicht unterzeichnenden Staaten), verbietet sie sogar generell. Ich sehe nicht, wie Ihre Behauptung, Folter sei (irgendwo) legal, haltbar ist.

  20. #20 Dr. Webbaer
    10. Juni 2011

    @JLN
    Es gibt Länder, die Folter anwenden und der Meinung sind, dass diese legal sei. – Beispiele will Dr. W hier sparen, prüfen Sie selbst! In den Ländern, in denen Folter dann legal ist oder teilweise anders genannt wird, Sie kennen die Wortwahlen sicherlich, greift dann eben auch die Argumentation des Fazits (sofern das, was der letzte Absatz ausdrückte, eines war) des Blogartikels.

    MFG
    Dr. Webbaer

  21. #21 Jürgen Schönstein
    10. Juni 2011

    @Bey
    Ich widerspreche Dir wirklich nur sehr ungern, weil das ungewollt wie eine Verteidigung der Todesstrafe wirken muss. Aber um der inneren Logik willen muss ich Deine Schlussfolgerungen, warum Exekutionen etwas anderes sind als sonstige, den Körper verletzende, aber rechtlich sanktionierte Eingriffe durch Ärzte. Denn die Todesstrafe basiert ja – aus ihrer inneren Logik heraus, ich betone es noch einmal – auf der Annahme, dass ein Weiterleben des Verurteilten der Gesellschaft ob seiner Schädlichkeit
    nicht zuzumuten ist. Todesstrafe ist im juristischen Katalog der USA lediglich eine von vielen legitimen Strafmaßnahmen und daher – aus ihrer inneren Logik heraus (ich kann es gar nicht oft genug betonen) – moralisch nicht anders einzuordnen als eine Haftstrafe. Und so lange der Arzt diese Einstellung teilt (was angesichts einer Zweidrittel-Mehrheit für die Todesstrafe durchaus eine realistische Möglichkeit ist), wäre der medizinische Beistand aus seiner Sicht nicht unethisch – so lange er dazu dient, dem Hinzurichtenden unnötiges Leid zu ersparen.

  22. #22 JLN
    10. Juni 2011

    @Webbaer: Und wie viele dieser Staaten haben die Menschenrechtskonvention nicht ratifiziert? Denn wenn sie sie ratifiziert haben, ist auch dort Folter illegal. Sie mögen das nicht verstehen, aber ratifizierte internationale Verträge haben letztlich Gesetzes- bzw. Verfassungsrang, das ist gerade der Punkt an der Ratifikation. Nun halten sich nicht alle Regierungen an ihre eigenen Gesetze, aber das ändert nichts an der fehlenden Legalität oder Legitimität dieser Handlungen. Dass in diesen Ländern so viel Aufwand betrieben wird, diese Handlungen zu legitimieren, zeigt letztlich gerade ihre fehlende Legalität.

  23. #23 Dr. Webbaer
    10. Juni 2011

    @JLN
    Die 1948er-Erklärung wird jedenfalls nicht unterschrieben und ratifiziert?, zudem versteht jeder (jedenfalls außerhalb des humanistisch geprägten Bereichs, aber es gibt regelmäßig auch dort “Interpretationen”) etwas anderes unter Folter. Die einen nennen’s (Prügel-)”Strafe”, woanders sinds “Verhörmethoden”, wieder andere kommen mit der Gefahrenabwehr, die die jeweilig vor Ort befindliche Kraft nach Gutdünken ausüben darf.

    MFG + GN8
    Dr. Webbaer (der sich jetzt ausklinkt)

  24. #24 JLN
    11. Juni 2011

    @Webbaer: Beitritt zur UNO bedingt Ratifikation der Menschenrechtskonvention. Ohne gehts nicht. Selbst wenn es nur Lippenbekenntnisse sind. Und als Verhörmethode, Gefahrenabwehr oder nicht juristisch bestätigte Strafe ist Folter illegal. (Richterlich verfügte Körperstrafen sind unter Bedingungen erlaubt). Ich bestreite ja gar nicht dass all das unter verschiedenen Deckmäntelchen betrieben wird, oder dass die Menschenrechtskonvention nicht einige Interpretationen zulässt, aber es ist schlicht und einfach Fakt, dass Folter weltweit verboten ist.

  25. #25 michael
    11. Juni 2011

    @Juergen
    > Denn die Todesstrafe basiert ja – aus ihrer inneren Logik heraus, ich betone es noch einmal – auf der Annahme, dass ein Weiterleben des Verurteilten der Gesellschaft ob seiner Schädlichkeit
    nicht zuzumuten ist.

    Stimmt das z.B. für die USA oder steckt da nicht der alte Straf- und Rachegedanke hinter der Todesstrafe.

  26. #26 Dr. Webbaer
    12. Juni 2011

    Rache != Strafe. Ansonsten: Klar, es geht primär um die Sühne.

    Die Staaten sind weniger vom, wie auch der Webbaer findet, lächerlichen Resozialisierungsgedanken geleitet. Man hat die Todesstrafe dort in der Tat als Strafe und weniger (aber auch) als “Sicherheitsverwahrung”.

    HTH
    Dr. Webbaer

  27. #27 Dr. Webbaer
    12. Juni 2011

    * Sicherungsverwahrung

  28. #28 Christian Reinboth
    14. Juni 2011

    @Jürgen:

    Ich finde, dass Ärzte aus moralischer Überzeugung die Beihilfe zum juristisch begründeten Töten verweigern sollten, und sich eben nicht auf den Standpunkt “ohne uns, aber ansonsten bitte gerne” (und auf den läuft es halt letztlich raus) zurückziehen sollten.

    Wer sagt denn, dass sich verweigernde Ärztevertretungen sich automatisch auf diesen Standpunkt beschränken müssen. Ich vermute ja eher, dass hinter der AMA-Haltung das Kalkül steckt, dass, wenn medizinischer Beistand erst einmal nicht mehr gewährleistet werden kann, entsprechende Klagen, die sich auf die Unmenschlichkeit der Bestrafung berufen, häufiger von Erfolg gekrönt sein könnten. Wobei ich das für eher unwahrscheinlich halte, da die Ausschlussdrohung letztlich nur den “Preis” für Ärzte in die Höhe treibt und es daher letztendlich immer einen geben dürfte, der sich zur Teilnahme bereiterklärt…