Eine verspätete Rechtfertigung des eigenen Schweigens hat spätestes seit dem umstrittenen Gedicht von Günter Grass einen schalen Beigeschmack. Ich tu’s trotzdem: Dass ich bisher zum Kölner Urteil hinsichtlich Beschneidungen schwieg, liegt nicht daran, dass ich mich nicht getraut hätte – auch wenn s.s.t. in einem Kommentar zu Florian Freistetters Beitrag einen derartigen Verdacht geäußert hat (ich werde dort zwar nicht direkt genannt, fühle mich aber angesichts meiner früheren Themenauswahl angesprochen).
Es war weniger Mangel an Mut als vielmehr ein Übermaß an Dingen, die mir dazu eingefallen wären – und die einander (scheinbar) widersprechen. So bin ich selbst zwar ein entschiedener Gegner der erzwungenen Genitalverstümmelung, aber trotzdem war meine erste Reaktion auf das Urteil: “Das können die doch nicht ernst meinen!” Warum, das erkläre ich später vielleicht noch etwas detaillierter, aber für den Anfang mag genügen, dass mir angesichts der vielfältigen, oft grausamen und immer unnötigen Misshandlungen, denen Kinder weltweit und auch bei uns ausgesetzt sind, die Dringlichkeit eines Beschneidungsurteils nicht spontan eingängig war. Außerdem war schnell erkennbar, welche breite und unsachliche Diskussion dieses Urteil ob seiner religiösen Konnotationen auslösen würde. Eine Diskussion, in der religiöse Traditionen, medizinische Rechtfertigungen, politischer Opportunismus und Vorwürfe des Antisemitismus zu jenem unappetitlichen Cocktail gemixt würden, der nun auch tatsächlich serviert wurde.
Darüber, dass Beschneidung nichts anderes ist als Körperverletzung, hat Florian ja schon ausführlich geschrieben und haben seine KommentatorInnen noch ausführlicher diskutiert. Ich will hier ein paar Aspekte noch einmal herausgreifen:
1. Das Kölner Urteil ist kein religiöses Urteil. Es ging um ein verletztes Kind. Nochmal langsam für jene, die hier laut schon “Antisemitismus” brüllen: Es ging um ein verletztes Kind.
2. Das Urteil selbst ist watteweich und baut der religiösen Tradition alle Brücken. Niemand wurde verurteilt, lediglich die Tatsache wurde festgestellt, dass Beschneidung eine Körperverletzung ist. Und im vorliegenden Fall war sie das auch eindeutig.
3. Der vom nationalsozialistischen Deutschland verübte Völkermord war keine Aktion primär gegen die jüdische Religion: Entscheidend war nicht, ob sich jemand zum mosaischen Glauben bekannte und diesen praktizierte, sondern allein, ob er jüdischer Abstammung war – egal, ob sie sich selbst als Atheisten oder Christen bezeichnet hätten. Holocaust-Vergleiche sind eigentlich immer widerlich, da sie versuchen, eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheit zu relativieren; daran ändert sich auch nichts, wenn der millionenfache, grausame Tod ganzer Generationen instrumentalisiert wird, um Körperverletzungen an Kindern zu rechtfertigen.
4. Wer kein besseres Argument für seine die Körper Anderer verletzenden Handlungen hat als Tradition, der muss wissen, dass er damit letztlich auch die Agrumentation all jener legitimiert, die ihre eigenen (Un-)Taten mit religiöser Tradition rechtfertigen:
(Achtung, das nachfolgende Video einer öffentlichen Exekution ist nichts für zarte Gemüter, auch wenn es im kritischen Moment schwarz wird. Wer so etwas nicht sehen will, kann es hier überspringen):
Musste das jetzt sein? Leider ja: Auch das gehört leider zur Realität der religiösen Traditionen. Die Freiheit der Ausübung einer Religion ist zwar ein Menschenrecht – aber sie rangiert damit nicht autmatisch höher als das ebenso grundsätzliche Recht auf körperliche Unversehrtheit. Im Grundgesetz beispielsweise wird die Garantie, nicht verstümmelt zu werden, im Artikel 2 festgeschrieben; die freie Religionsausübung folgt in Artikel 4.
5. Dass die Entfernung der Vorhaut auch medizinisch begründbar ist, steht außer Frage. Wenn im Kölner Fall eine solche Indikation vorgelegen hätte, wäre es ja gar nicht erst zum Verfahren gekommen. Aber auch wenn der angebliche medizinische Nutzen der Zirkumzision gerne in der Diskussion bemüht wird: Religiöse Beschneidungen werden nicht aus medizinischen Gründen durchgeführt. Und selbst wenn sie eine prophylaktische Entfernung von Körperteilen wären, so ist diese nicht allein dadurch zu begründen, dass jene später durch mangelnde Pflege ein Krankheitsherd werden könnten. Selbst noch bei Weisheitszähnen ist diese noch weit verbeitete Argumentation inzwischen fraglich.
6. Was die angeblich einer Aids-Infektion vorbeugende Wirkung der Beschneidung erwachsener Männer in Südafrika mit der religiös motivierten Verstümmelung kleiner Kinder zu tun hat, ist komplett rätselhaft.
Es lohnt sich an dieser Stelle, mal ein bisschen genauer auf diese auch von der Weltgesundheitsorganisation propagierte Aids-Prophylaxe einzugehen:
Die im Juli 2006 in PLoS publizierte Studie The Potential Impact of Male Circumcision
on HIV in Sub-Saharan Africa hatte einen Zusammenhang zwischen den Beschneidungspraktiken im südlichen Afrika und dem Ausmaß der Aids-Infektion in den jeweiligen Ländern festgestellt: In den Ländern, wo rituelle Beschneidung praktiziert wurde, kam es zu deutlich weniger Aids-Infektionen bei Männern durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr. Das war erst mal ein rein statistischer Zusammenhang (der sich ja auch durch unterschiedliche, religiös geprägte Sexualmoral in den jeweiligen Kulturen erklären ließe), doch zwei Feldstudien in Kenia und Uganda, in denen sich Männer freiwillig beschneiden ließen, bestätigten auch in einer unabhängigen Analyse die erstaunliche Folgerung: Durch diesen Eingriff konnten die Neuinfektionen innerhalb von 24 Monaten um 38 bis 66 Prozent reduziert werden.
Das ist in der Tat bemerkenswert. Und eigentlich nicht wirklich überraschend: Dass eine solche einschneidende Veränderung des Sexualorgans auch das Sexualverhalten zumindest kurzfristig (die Rede war hier von den ersten 24 Monaten nach dem Eingriff) verändern kann, ist auch ohne medizinische Ausbildung nachvollziehbar. Dass die Studie eher en passant feststellt, diese Verhaltensänderung habe nicht stattgefunden, ist eher unplausibel. Vor allem, weil dabei nur die Frequenz des Geschlechtskontaktes nach dem Eingriff erfasst wurde – was erstens natürlich nur auf Selbstangaben der Patienten beruhen kann, die notorisch unzuverlässig sind (ach nee, Männer lügen über ihre sexuelle Potenz?), und zweitens nicht berücksichtigt, ob und wie sich die sexuellen Praktiken dabei verändert haben.
Und selbst wenn, was wie gesagt glaubhaft ist, diese Beschneidung bei Erwachsenen kurzfristig zu einem Rückgang der Neuinfektionen führt, bleibt erst mal abzuwarten, ob dies auf längere Sicht nicht wieder dadurch ausgependelt wird, dass sich die derart Behandelten nun gegen Aids gefeit fühlen und entsprechend sorgloser handeln. Dass diese Gefahr besteht (die sich wohl erst beim nächsten Studien-Stichtag im Jahr 2015 abschätzen lässt), räumen selbst die erklärtesten BefürworterInnen dieser Praxis ein. Und nur mal so als Nebengedanke: Wenn Beschneidungen an sich tatsächlich so ein wirksames Mittel gegen die Aids-Infektionen wären – warum sind diese dann in den USA noch so häufig? Dort werden Beschneidungen, unabhängig von der Religion, praktisch routinemäßig an Neugeborenen vorgenommen (ich selbst musste mehrfach dieses “Angebot” ablehnen, als mein Sohn hier zur Welt kam), und mehr als die Hälfte der männlichen Bevölkerung ist an der Vorhaut amputiert.
Aber zurück zum Thema: Im Kölner Urteil ging es um einen Fall von Körperverletzung. Dass diese religiös motiviert war, ändert erst mal nichts daran, dass der Körper des Opfers verletzt wurde. Nur darüber hatte das Gericht zu befinden, und es hat sich speziell bei den religiösen Aspekten seiner Entscheidung mit dem Hinweis auf den bestehenden Verbotsirrtum aus der Affäre gezogen:
Da der angeklagte Arzt im Glauben handelte, dass seine Tat rechtmäßig sei, könne ihm auch keine Schuld angelastet werden: Der Angeklagte handelte jedoch in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum und damit ohne Schuld (§ 17 Satz 1 StGB).
Der Angeklagte hat, das hat er in der Hauptverhandlung glaubhaft geschildert, subjektiv guten Gewissens gehandelt. Er ging fest davon aus, als frommem Muslim und fachkundigem Arzt sei ihm die Beschneidung des Knaben auf Wunsch der Eltern aus religiösen Gründen gestattet. Er nahm auch sicher an sein Handeln sei rechtmäßig.
Der Verbotsirrtum des Angeklagten war unvermeidbar. Zwar hat sich der Angeklagte nicht nach der Rechtslage erkundigt, das kann ihm hier indes nicht zum Nachteil gereichen. Die Einholung kundigen Rechtsrates hätte nämlich zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt. Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum wird bei ungeklärten Rechtsfragen angenommen, die in der Literatur nicht einheitlich beantwortet werden, insbesondere wenn die Rechtslage insgesamt sehr unklar ist (vgl. Joecks in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., § 17 Rn. 58; Vogel in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl., § 17 Rn. 75; BGH NJW 1976, 1949, 1950 zum gewohnheitsrechtlichen Züchtigungsrecht des Lehrers bezogen auf den Zeitraum 1971/1972). So liegt der Fall hier. Die Frage der Rechtmäßigkeit von Knabenbeschneidungen aufgrund Einwilligung der Eltern wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet. Es liegen, wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, Gerichtsentscheidungen vor, die, wenn auch ohne nähere Erörterung der wesentlichen Fragen, inzident von der Zulässigkeit fachgerechter, von einem Arzt ausgeführter Beschneidungen ausgehen, ferner Literaturstimmen, die sicher nicht unvertretbar die Frage anders als die Kammer beantworten.
Das Gericht bestätigte also ausdrücklich, dass die Rechtslage “ungeklärt” sei. Artikel 2 des Grundgesetzes würde übrigens in der Tat erlauben, diese Rechtslage im Sinne der betroffenen religiösen Organisationen zu regeln:
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Wenn also gesetzlich beschlossen würde, dass den Körper verletzende Beschneidungen rechtens sind, wäre dies durchaus mit dem Grundgesetz und der darin enthaltenen Auslegung der Menschenrechte vereinbar.
Aber warum dann meine oben erwähnte spontane Fassungslosigkeit ob des Kölner Richterspruchs? Weil die Sache halt in der Realität komplizierter ist. Allein schon mal, weil körperverändernde Eingriffe sehr weit verbreitet sind, obwohl sie medizinisch fragwürdig sein mögen: Weisheitszähne werden “prophylaktisch” gezogen (ja, auch das ist eine Amputation), selbst wenn keine medizinische Indikation vorliegt; Kaiserschnitte werden ob ihrer Planbarkeit vorgenommen, und nicht nur als Notfalllösung; auch wenn in beiden Fällen – es gäbe sicher mehr Beispiele – typischer Weise die Zustimmung der Patienten vorliegt, ist die Freiwilligkeit angesichts der Asymmetrie zwischen “empfehlenden” Behandlern und Patienten nicht immer zwingend gegeben. Wäre das dann auch Körperverletzung? (Ich denke schon.)
Aber auch, weil – Körperverletzung oder nicht – etwa ein Drittel der männlichen Weltbevölkerung über 15 Jahre nach Schätzungen der WHO beschnitten ist. Und diese Form der Genitalverstümmelung damit, ob es uns gefällt oder nicht, in vielen Ländern zu einer kulturellen ebenso wie einer ästhetischen Präferenz geworden ist; in den USA beispielsweise, wo – ebenfalls laut dem bereits verlinkten WHO-Bericht – nahezu 85 Millionen Männer ohne religiösen Grund beschnitten sind, ist die Auffassung weit verbreitet, dass ein intakter Penis unattraktiv und unhygienisch sei. Weil sich das Urteil vor der Schuldfrage drückt. Weil damit genau das Gegenteil erreicht wird, was man sich wünschen möchte: Um die empörten Religionsverfechter zu beruhigen, wird voraussichtlich wohl ein Gesetz erlassen, das diese Praxis ausdrücklich gutheißt. Und selbst ein Verbot hätte wenig Wirkung, so lange nicht geklärt ist, wie man die Einhaltung des Gesetzes sicherstellen kann. Was unterschiede einen legal in den USA oder in der Türkei beschnittenen Penis von einem illegal in Deutschland beschnittenen Penis?
Und ich begreife sogar die Ängste der religiösen Führer. Nicht nur, weil ein Beschneidungsverbot fatal an das Schächtverbot von 1933 erinnert, das historisch den Auftakt jener gesetzlichen Diskriminierung bildete, die dann in den Nürnberger Rassengesetzen und allen darauf begründeten Gräueln kulminierte. Nochmal: Die Annahme, dass ein Verbot einer körperverletzenden Tätigkeit ein Schritt zur Eliminierung der jüdischen und moslemischen Religionen sein könnte, ist angesichts des heutigen Rechtsverständnisses absurd; dies dennoch als Argument dafür zu verwenden, es gebe ein Recht darauf, die Körper von Kindern zu verstümmeln, ist schäbig. Aber das habe ich ja schon gesagt.
Doch es gibt mindestens noch einen weiteren Grund, warum dieses Urteil nicht nur die Sensibilitäten der jüdischen und muslimischen Religionsvertreter stimuliert hat, sondern auch die gleiche Empörung in christlichen Führungskreisen provoziert: Es geht ja eigentlich gar nicht um ein paar Quadratzentimeter Haut, sondern darum, dass eine solche Rechtsauffassung diesen Religionen das Privileg nähme, über das Wohl Anderer (zu denen nach diesem Urteil halt die Kinder gehören – das Bestimmungsrecht der Eltern wiegt nicht so schwer wie das Recht der Kinder auf spätere Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit im Generellen) zu entscheiden. Weil den Eltern damit das Recht genommen würde, als Ausführungsorgane im Auftrag der Religionen ihre Kinder schon zum frühest möglichen Zeitpunkt für die Religionsgemeinschaft zwangsweise zu rekrutieren. Weil diese Organisationen unter Religionsfreiheit nicht primär eine Freiheit des/der Einzelnen verstehen, sich seine/ihre Religion selbst zu wählen, sondern die Freiheit der Religionsgemeinschaft und ihrer Institutionen, just darüber zu entscheiden.
Wo kämen sie hin, wenn Kindern das Recht gegeben würde, ihren Glauben selbst zu wählen? Wahrscheinlich auch in etwa da, wo sie jetzt sind, weil Eltern nun mal sehr viel Einfluss auf ihre Kinder haben – aber sei’s drum: Es ist nicht allein die Praxis, kleinen Jungs die Vorhaut abzuschneiden (was sie, wie mich der amerikanische Alltag lehrt, generell doch ganz gut überleben), über die wir hier diskutieren sollten. Sondern die Praxis, Kindern eine Religion aufzuzwingen.
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