Zumindest zwei Mediengeschichten, die sich ähneln. Ich stelle sie einfach mal ganz kurz nebeneinander – ohne Wertung.

Story Eins: Der amerikanische “rising star” des Journalismus, Jonah Lehrer, Starautor des Magazins New Yorker, musste am Montag überraschend seinen Hut nehmen – ihm wurde nachgewiesen, dass er für sein neuestes Buch Imagine Zitate von Bob Dylan teilweise frei erfunden, andere zuminfest abgeschrieben und aus dem Zusammenhang verwendet hatte. Den Hintergrund dazu beschreibt die New York Times hier.

Story Zwei:
Heribert Prantl, Starautor der Süddeutschen Zeitung, beschreibt in einem Seite-3- Porträt über den Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle Küchenszenen, die er nicht selbst erlebt hat. Auch das sorgt für Wirbel.


Sind beide Storys vergleichbar? War die “freimüssige” Entlassung Lehrers zu hart? Oder sollten wir Deutschen uns daran ein Beispiel nehmen? Letzteres ist eine ehrliche Frage, denn ich weiß aus langjähriger Erfahrung, dass fast nichts i Journalismus mehr bearbeitet wird als Zitate. Zwischen frei erfundenen Zitaten (manche, das muss ich hinzu fügen, im Einverständnis mit den Interviewten dann in die Gesprächabschrift eingefügt) und solchen, die beispielsweise von Pressesprechern stammen, oder die aus schriftlichen Presseerklärungen übernommen und dann (auch hier wieder mal ungerfagt, mal mit Einverständnis) als wörtliche Zitate den “Interviewten” zugeschrieben werden, bis hin zu aus fremden/ungenannten Quellen abgeschriebenen “Zitaten” habe ich alles schon erlebt – ich behaupte sogar, dass es bei uns die Regel ist, das Gesagte nicht wörtlich wiederzugeben, sondern eine korrigierte (machmal wird nicht nur die Syntax und Grammatik zurechtgebogen, sondern auch gleich der ganze Inhalt) Fassung desselben zu drucken. Was ist für den Leser wohl besser?

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Kommentare (15)

  1. #1 Thilo
    31. Juli 2012

    Was ist denn eine freimussige Entlassung?

    Zur Sache: jemand Zitate in den Mund zu legen, die er nicht gesagt, hat fur mich noch einen anderen Geschmack als jemandes kolportierte Kuechengewohnheiten zu beschreiben.

  2. #2 Orthos
    31. Juli 2012

    Die Wahrheit ist halt manchmal nicht spektakulär genug.

    Es ist ja schon interessant genug wenn man Nachrichten aus Russland oder China oder sonstigen ausländischen Medien mit den unseren vergleicht. Ich denke die Wahrheit liegt dann wohl irgendwo in der Mitte.

    Unseren Medien vertraue ich nicht mehr blind.

  3. #3 ali
    31. Juli 2012

    Das wäre dann noch ein Schritt weiter als sich selbst kopieren. Offensichtlich ist Jonah Lehrer ein Grenzgänger (zumindest was das Zitieren anbelangt).

  4. #4 Florian Aigner
    31. Juli 2012

    Erfundenes publizieren geht natürlich gar nicht – darüber müssen wir wohl nicht diskutieren. Wenn jemand aber ein Zitat freigibt, das nicht wörtlich so gefallen ist, finde ich das unproblematisch. Das ist ein ganz alltägliches Phänomen:

    Journalist fragt Wissenschaftler, Wissenschaftler antwortet in einem Wortschwall mit vielen Fachbegriffen und noch mehr “ähs” und “ähms” und unvollendeten Gliedsätzen. Der Journalist biegt daraus einen allgemeinverständlichen Satz zusammen, der das Gesagte zwar (hoffentlich!) inhaltlich richtig wiedergibt, mit den Formulierungen des Wissenschaftlers aber oft nichts zu tun hat. Wenn der Wissenschaftler dann diese überarbeiteten Zitate zu sehen bekommt und sie für passend befindet, dann ist er selbst wohl recht froh darüber, dass seine Aussagen zurechpoliert worden sind. Mit dieser Vorgehensweise habe ich kein Problem. Zitate verbiegen ohne sie sich dann noch einmal freigeben zu lassen, ist natürlich nicht akzeptabel.

  5. #5 Faustus
    31. Juli 2012

    “freimüssig” made my day 😀
    Portmanteau aus “freiwillig” und “müssen” … ich denk mal das ist zu vergleichen mit “er wurde gegangen”

  6. #6 rolak
    31. Juli 2012

    Ich schließe mich Faustus an – egal ob Dr oder nicht…

    Aus dem hier verlinkten Text erschließt sich mir nicht, ob Prantl sich das Küchenszenario aus den Fingern gesaugt oder von Dritten übernommen bzw zusammengebastelt hat, ohne es explizit als eigenes Erleben ausgegeben zu haben. Letzteres wäre für mich gerade noch ok (Täuschung entsteht beim Leser, der falsch zuordnet), ersteres nicht.

  7. #7 Redfox
    31. Juli 2012

    @rolak:

    https://www.badische-zeitung.de/deutschland-1/kuechen-affaere-verfassungsgericht-distanziert-sich-von-sz-portraet–62079384.html

    Wie aber kam Prantl zu seinem schönen Bild? “Die Küchenszene ist das Produkt anschaulicher Schilderungen prominenter Teilnehmer”, antwortete er auf Nachfrage per SMS. Und wenn man die Passagen aufmerksam nachliest, stellt man fest: Prantl vermied das Wörtchen “ich” aufs sorgfältigste.

  8. #8 rolak
    31. Juli 2012

    Danke, Redfox, also Letzteres. Bin ich auch von ausgegangen, die zweite Hälfte von dem BadZei-Zitat war ja auch schon im Focus-Artikel zu lesen.

    War gerade selber nebenan in der Küche beim Schnippeln, generelle Probleme mit Dressing gibts bei mir nicht 😉

  9. #9 Christoph Moder
    31. Juli 2012

    Die Frage ist doch weniger, wie es geschrieben ist, sondern wie es beim Leser ankommt. Ein Text mit wörtlichen Aussagen ohne Bearbeitung, bei dem dem durchschnittliche Leser Hintergrundwissen fehlt, kann irreführender sein als einer, bei dem trotz kleiner Schwindeleien die Aussage richtig rüberkommt.

    Andererseits ist es unverständlich, warum ein erfahrener Autor wie Prantl ohne Not etwas schreibt, das derart offensichtlich einen falschen Eindruck beim Leser erweckt.

  10. #10 MJ
    31. Juli 2012

    Ich schließe mich Ali an (glaube ich zumindest): Lehrer wurde vor nicht einmal ein paar Wochen beim intensiven Selbst-Plagiieren erwischt, darunter auch schon Veröffentlichungen aus dem New Yorker selbst. Das war für den NY peinlich und er musste nachttäglich disclaimer einfügen – damals wurde schon Lehrers Rausschmiss gemunkelt.

    Diese neue Geschichte zeigt einen systematisch “lockeren” Umgang mit Fakten und Zitierungen auf – das macht ihn als Wissenschaftsautor ziemlich unbrauchbar…

  11. #11 MJ
    31. Juli 2012

    @ MJ

    “vor nicht einmal ein paar Wochen” ist eine ziemlich dumme Formulierung…

  12. #12 ZielWasserVermeider
    31. Juli 2012

    Journalisten? Gibt es die noch? OO
    Ich dachte man hat in den Redaktionen nur noch Pressdienstmeldungsverschönerer…..

    Erstaunt
    Oli

  13. #13 BreitSide
    31. Juli 2012

    Der erste Kommentator zum focus-Artikel (“Maincourse”)bringt es auf den Punkt: Die Doppelmoral der rivalisierenden Presseorgane.

    Die Formulierung “Man muss ihn erlebt haben” ist schon recht suggestiv, dem widerspreche ich überhaupt nicht.

    Etwas vorsichtiger (“Man muss ihn offenbar erlebt haben…”) wäre vielleicht geschickter gewesen. Aber hätte der Hund nicht geschissen…

    Als hätten die nicht selbst schon ganz andere Böcke geschossen.

  14. #14 threepoints...
    1. August 2012

    Aber selbstverständlich muß man sich verlassen können, dass, wenn es sich um ein Interview handelt, der Inhalt so auch besprochen wurde. Und das möglichst im O-Ton ohne Nachbearbeitung. Alles andere wäre grundsätzlich eine Art Lüge mit dem Vorsatz etwas zu “verschönen”, zu verbessern und sich selbst als besser darzustellen, wie als man tatsächlich sei.
    Ich kann mir doch kein stimmiges Bild dieser Welt machen, wenn diese Welt sich regelmässig selbst verleugnet und und dadurch geradezu etwas einbildet…und vorgibt, was nicht zutrifft.
    Eine nachträgliche Änderung eines Interviewtextes ist doch eine Art Ideologisierung einer dahinter sich befindenen Wahrheit und Realität.

    Einen Vorteil aber hat es, wenn man damit regelmässig (also immer) rechnen muß, dass der mediale Inhalt nicht Realität ist, dass man von vornherein nichts mehr glaubt, wie es gedruckt wird. Es ist ferner für den feinsinnigen Leser / Konsumenten von medialen output also auch eine Art Trainingsdisziplin, sich dabei immer wieder eine realistische Wahrheit hinter der plakativen “Wahrheit” eigenständig hinein zu interpretieren und assoziieren.

    Besser als jedes Psychologiestudium…. Verhaltensforschung auf höchstem Niveau eben.

  15. #15 rolak
    1. August 2012

    Nur so als Anmerkung: Anläßlich des Lehrer-Falles hat Sam Harris für diese Woche den download seines Essays ‘Lying’ freigegeben. DL-link am Ende seines entsprechenden blogposts.