Urheberrecht hin, Verwertungsrecht her, und sowieso zum Teufel mit der Frage, ob Schreiben echte Arbeit ist: Anhand der Affaire Kick mich lässt sich noch etwas ganz anderes recht gut beobachten – die Entstehung einer Verschwörungstheorie. Die VT:
Der lukrative Buchvertrag (100.000 Euro vorab) für die Piraten-Politikerin Julia Schramm war nur ein Trick, um die Piratenpartei später bloßstellen und deren Politik, die sich dediziert gegen die “Content-Industrie” (= Bertelsmann und vergleichbare Konzerne) und vor allem gegen deren weit reichende Verwertungsrechte richtet, zu diskreditieren und im Idealfall zu torpedieren.
Das Schöne an dieser VT ist, dass sie sogar minutengenau zu datieren ist: Am 19. September 2012, um 07:35 Uhr, wurde sie mit dem Beitrag Julia Schramm: Ein Buchdebakel als Sieg für Bertelsmann geboren. Wobei ich dem FAZ-Blogger, der unter dem Pseudonym Don Alphonso schreibt, hier nicht unterstelle, dass er tatsächlich an diese Verschwörung glaubt* – eigentlich beschreibt er nur ganz plausibel, dass Bertelsmann in jedem Fall mit einem gewissen Nutzen aus der ganzen Angelegenheit rauskommen wird. Denn egal ob das Buch ein Erfolg oder ein Flop wird (aktueller Amazon-Verkaufsrang um 0:06 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit am 22. September 2012: 2.477, nicht unbedingt Beststeller-Rang), kann sich der Konzern doch einen politischen Nutzen ausrechnen, wenn die Position der Piraten-Partei geschädigt oder geschwächt wird. Und so wie es aussieht, ist dieser Effekt auch tatsächlich eingetreten.
(*An keiner Stelle in dem verlinkten FAZ-Blogbeitrag wird unterstellt oder behauptet, Bertelsmann habe den Verlauf der Ereignisse geplant; im Gegenteil wird viel mehr darüber nachgedacht, welchen Nutzen Julia Schramm für sich aus der Kombination von Parteiamt und Buchvertrag generierten kann.)
Aber dieser Gedanke – Bertelsmann steckt eigentlich dahinter, und die Sache war von Anfang an zum Schaden der Piraten geplant – hat offenbar eine große Anziehungskraft: Schon wenig später taucht er, wenn auch mit dem (scheinbaren) Caveat “böse Zungen behaupten …“, in diesem Online-Statement auf dem privaten Blog der Piraten-Politiker Andy Popp und Bruno Kramm auf (mit Link von “böse Zungen”, im vorletzten Absatz, auf Don Alphonsos Text). Ein klassischer “Hedge“: Ich sag’s jetzt mal, weil ich es gerne sagen möchte, übernehme aber nicht die Verantwortung, sondern zitiere “böse Zungen” – wenn sich’s als falsch entpuppt, dann beweist das halt die Bösartigkeit dieser Zungen, aber wenn’s richtig war … niemand hat ja behauptet, die bösen Zungen seien Lügner, oder?
Die Idee, dass das alles die Schuld der bösen Content-Industrie sein müsse, die wohlmeinende PiratInnen reingelegt habe, fiel von da ab offenbar schnell auf fruchtbaren Boden: Auch bei mir im Blog schlug sie, um 22:09 des gleichen Abends, schließlich ihre Wurzeln.
Verschwörungstheorien haben ja zumeist zwei ganz typische Elemente (die wichtiger sind als der Nachweis einer Verschwörung an sich): Sie verändert den – erzählten – Ablauf des Geschehens, und sie verteilt die Rollen von Täter und Opfer neu. Schnelles Beispiel: Wenn Dominique Strauss-Kahn Sex mit einer Hotelangestellten hat (ob nun mit deren Einverständnis oder nicht), dann wirft das schlechtes Licht auf ihn. Aber wenn dahinter ein Komplott gegen ihn steckt, dann wird er plötzlich zum Opfer – und Opfer können ja bekanntlich keine Täter sein, oder? Vor allem die Neuerzählung der Geschehnisse lässt sich in diesem Fall gut belegen: In dieser offiziellen Stellungnahme des Bundesvorstands zur Buchveröffentlichung “Klick mich”, die schließlich am 20. September (leider habe ich keine Uhrzeit auf der Webseite gefunden) verbreitet wurde, liest sich die Story dann so: heldenhafte Piratin kämpft beim bösen Buchverlag um mehr Rechte für freie Internetnutzer, doch ach, sie ist der Macht dieses Medienriesen unterlegen. Aber sie gibt nicht auf, für ihre Überzeugungen zu kämpfen:
Die gängige Praxis, Anbieter und Benutzer im Netz bereitgestellter Kopien abzumahnen, vom Netz zu nehmen und mit einer Kostennote zu bestrafen, konnte Julia Schramm mittels eines Kompromisses mit ihrem Verlag abschwächen und so eine der Forderungen der Piratenpartei zumindest im Ansatz realisieren. So konnte sie durchsetzen, dass zunächst eine einfache Information und Bitte statt einer kostenpflichtigen Abmahnung erfolgt.
Heldinnenhaft, einfach heldinnenhaft! Oder so… Naja, zum einen hätte Bertelsmann an die US-Webseite Dropbox gar keine Abmahnung (und schon gar keine gebührenpflichtige) schicken können – die wäre hier gegenstandslos. Aber ob Julia Schramm zum anderen tatsächlich mit ihrem Verlag über eine möglichst freie Netnutzung verhandelt hat, ist sowieso nicht überprüfbar, obwohl doch gerade solch ein Kampf mit den bösen Mächten um die Positionen ihrer Partei in ihrem eigenen Tätigkeitsbericht, beziehungsweise das Scheitern dieser Bemühungen in dem entsprechenden persönlichen Logbuch irgendwo auftauchen sollte. So, und auch hier wieder der Einschub, von Autor zu Autor: Es ist das gute und geltende Recht von AutorInnen, möglichst viel Erlös für ihre Arbeit herauszuschlagen. Je mehr, je besser, bravo! Die Forderung danach, dass solche Arbeit auch bitteschön frei (womit ja primär “gebührenfrei” gemeint ist) verfügbar gemacht werden soll, stammt nicht von “uns” Schreiberlingen, sondern … genau, von der Partei, deren führendes Mitglied die besagte Autorin ist. Ich messe hier also nicht an meinen Maßstäben, sondern an ihren.
Und mit dieser Stellungnahme wird die Verschwörungstheorie nun zur (leicht verklausulierten, aber dennoch klar erkennbaren) offiziellen Lesart:
Im Windschatten dieses medial geschürten Konfliktes setzen die Gegner einer Urheberrechtsreform ein weiteres Mal sämtliche Hebel in Bewegung, um weiterhin für ihr veraltetes Auswertungsrecht zu werben und die sachliche Argumentation der Piratenpartei durch eine einseitige und emotional zugespitzte Debatte zu konterkarieren.
Aus humoristischer Sicht wäre es geradezu unverzeihlich, hier nicht auch noch das Statement zu erwähnen, das der Piratenvorsitzende Bernd Schlömer am Nachmittag des 19. September verbreiten ließ:
Die Diskussion um die Veröffentlichung des Buches “Klick mich” zeigt in eindrucksvoller Weise die Notwendigkeit auf, über neue Lösungen im Urheberrecht nachzudenken. Die hilflose Agieren des Verlages “Random House” bei der Begegnung von geleakten Versionen im Netz offenbart den Kontrollverlust, den Verlage und Verwerter angesichts der Realien des Informationszeitalters erleiden. Es ist jetzt an der Zeit, über Reformen des Urheberrechts zu diskutieren. Ein besseres Beispiel hätte uns Julia Schramm mit der Veröffentlichung ihres Werkes nicht liefern können.
Oder, in anderen Worten: Wir haben zwar ein Eigentor geschossen, aber wenigstens beweist das, dass wir nach Bällen treten können.
Aber zurück zur VT: Es könnte ja, allen Zweifeln zum Trotz, doch etwas dran sein. So ein Medienriese wie Bertelsmann ist doch bestimmt zu allem fähig, oder? Kommt erst mal drauf an, was man als “etwas” bezeichnen will. Dass sich im Laufe der Entwicklung einige der Bertelsmänner und -Frauen ins Fäustchen gelacht haben, will ich gerne glauben. Aber es ist eine Sache, etwas schadenfroh (oder, sagen wir mal, opportunistisch) mit anzusehen, eine andere, etwas vom Start weg zu planen. Und wenn dieses “etwas” bedeuten soll, dass Bertelsmann – vielleicht (um mal Öl in die Flammen zu gießen) in Komplizenschaft mit Springer, der WAZ-Gruppe und allen anderen großen deutschen Verlagen? – die Affäre geplant und eingefädelt hat, um damit die gefürchtete Piraten-Novelle des Urheberrechts zu stoppen, dann schließt das folgende Aussagen mit ein:
– Bertelsmann wusste bereits lange vor den Piraten selbst, wie sich die Parteikarriere von Julia Schramm entwickeln würde (ohne ihr führendes Parteiamt wäre der Plan nicht aufgegangen);
– Bertelsmann ist tatsächlich entweder ein einzelner Mann (der Name ließe sich ja so interpretieren oder?), der alle Entscheidungen alleine für sich trifft und für sich behalten kann, oder Random House (ca. fünfeinhalb Tausend MitarbeiterInnen) ist ein Kult, dessen Schweigegelübde unbedingt beachtet wird.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Konzern solche politischen Pläne nebst der großzügigen Finanzierung derselben dem Mittelmanagement (das für Buchdeals auf dieser Ebene typischer Weise zuständig ist) frei überlässt, ist in einer Aktiengesellschaft praktisch Null. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine entsprechende Direktive vom Vorstand durch die diversen betroffenenen Organisationsschichten gehen kann, ohne dass davon etwas nach außen sickert (irgendwer hat immer sein Mütchen an irgendwem zu kühlen), ist ebenso sicher praktisch Null. Und das alles für eine Aktion, deren politischer wie wirtschaftlicher Nutzen nicht kalkulierbar ist?
Klar, das kann man glauben. Und der Beweis, dass etwas nicht so war wie behauptet, ist generell nur schwer zu führen. Doch den Plausibilitätstest sollte eine VT zumindest ansatzweise bestehen…
Kommentare (23)