Nicht jede Stimme zählt
Na gut. Dann wiegt halt eine Stimme in Wyoming oder Alaska schwerer als eine Stimme in New York, Texas oder Kalifornien (was aber dafür wiegt Kalifornien insgesamt immer noch mehr als die 15 kleinsten US-Staaten zusammen). Aber so lange jede Stimme zählt, ist ja zumindest das Prinzip von “One Man, One Vote” gewahrt, oder nicht? Nein, leider auch nicht. Denn wie schon gesagt, am 6. November geben die US-Wahlberechtigten nur ihre Stimme für das Electoral College ab, nicht für den Präsidenten. Und dieses Wahlkollegium setzt sich nicht proportional nach den Stimmverhältnissen im Staat zusammen, sondern folgt dem Prinzip “Winner takes all!” – egal, wie knapp oder deutlich die Wahl für einen Kandidaten ausgeht, er erhält immer alle Stimmen des jeweiligen Electoral College. (Maine und Nebraska haben zwar ein System, bei dem es theoretisch auch ein Splitting der Elektoren zwischen zwei Kandidaten geben kann, doch in der Wahlpraxis ist dieser Fall bisher nie eingetreten). Aber das heißt in der Praxis nichts anderes, als dass nur die Stimmen für den Sieger gezählt werden (a propos: so lange in den USA keine Frau ernsthaft für die US-Präsidentschaft nominiert ist, spare ich mir jetzt mal die “genderneutrale” der/die-Aufreihung); alle Stimmen, die nicht dem Wahlsieger zugedacht waren, werden praktisch in die Tonne geworfen. Ein Republikaner, der beispielsweise im Staat New York seine Stimme abgibt, könnte sich theoretisch auch den Weg zur Wahlurne sparen, da seine Stimme hier keine Chance hat (das gleiche gilt übrigens für einen Demokraten in Arizona). Und so kann es kommen, dass ein Kandidat zwar eine klare Mehrheit der Stimmen insgesamt erreicht, aber dennoch am Ende nicht zum Präsidenten gewäht wird: Al Gore beispielsweise zog bei den Wahlen im Jahr 2000 über 540.000 Stimmen mehr als George W. Bush auf sich.
Wer nun denkt, dass ich damit die Legitimtät oder zumindest den gesellschaftlichen Wert der bevorstehenden US-Wahlen anzweifeln oder gar bestreiten will, so irrt sich der (oder die). Denn auch in Deutschland wird beispielsweise, als Folge der so genannten 5-Prozent-Hürde, nicht jede Stimme faktisch gezählt. Und von wegen Stimmengleichheit will ich nur mal ein schnelles Beispiel herausgreifen: Um beispielsweise im relativ großen Wahlkreis Wetterau (Hessen) gewählt zu werden, braucht ein Bundestags-Direktkandidat etwa 35 Prozent mehr Stimmen – in absoluten Zahlen – als ein Kandidat im benachbarten Wahlkreis Hochtaunus. Drei WählerInnen dort wiegen am Ende so vel wie vier Wahlberechtigte im Wetteraukreis… Aber entscheidender ist, dass diese scheinbaren Ungereimtheiten den USA vom Start weg eine nahezu unvergleichliche politische Stabilität beschert haben. Nicht im Sinn, dass immer nur eine Partei regiert (auch wenn es lange für einen Europäer schwierig gewesen sein dürfte, die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern aufzuspüren), aber in dem Sinn, dass immer jemand regiert.
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