Amerikaner bezeichnen ihr Land ja gerne – und absolut unironisch – als “greatest democracy on earth” (wobei “greatest” hier unbedingt mit “großartigste” zu übersetzen ist). Und spätestens seit dieser Rede, mit der Präsident Woodrow Wilson im April 1917 den Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg begründete, sehen sie es als ihre Mission, die Welt demokratischer zu machen. Am kommenden Dienstag ist Wahltag in den USA – diese selbst erklärte großartigste Demokratie der Welt wird ihren nächsten Präsidenten bestimmen. Und was könnte demokratischer sein als eine freie, gleiche und geheime Wahl?
Da wäre zum einen schon mal zu nennen, dass der Begriff “Demokratie” an sich schon irreführend ist, da selbst in den besten Demokratien der Welt (unter denen die USA übrigens auf einem ernüchternden 19. Platz landen) nicht wirklich der Demos regiert, sondern die Beteiligung des Volkes sich darauf beschränkt, in regelmäßigen Abständen Vertreter zu wählen, von denen es sich regieren lässt. Und zum anderen ist in der Tat eine pure Demokratie vermutlich gar nicht erstrebenswert, da sie – wie der französische Politikwissenschafter Alexis de Toqueville warnte, zur “Tyrannei der Mehrheit” führen würde – eine Gefahr, der sich die amerikanischen Gründerväter Ende des 18. Jahrhunderts schon durchaus bewusst waren. Nicht ganz ohne Grund grummelte der US-Schriftsteller Gore Vidal über das stetige Geplapper von der “großartigsten Demokratie”:
“The founding fathers hated two things, one was monarchy and the other was democracy, they gave us a constitution that saw to it we will have neither.” (Die Gründerväter hassten zwei Dinge, das eine war Monarchie, das andere Demokratie, und sie gaben uns eine Verfassung, die dafür sorgt, dass wir keins von beiden haben werden.)
Interview mit der australischen Rundfunkstation ABC im November 2001
Na gut, aber die Wahlen folgen doch wenigstens dem modernen demokratischen Grundprinzip, dass jede Stimme gleich viel zählt, nicht wahr? Nein, falsch! Und zwar in mehrfacher Hinsicht:
Nicht jede Stimme zählt gleich
Es ist schon das erste Missverständnis zu glauben, dass die USA dem Prinzip “One Man, One Vote” (und dank des 19. Verfassungsartikels vom 18. August 1920 endlich auch “One Woman, One Vote”) verpflichtet seien. In der Realität zählen manche Stimmen erheblich weniger als andere – und das ist kein Versehen, sondern bewusst so eingerichtet. Dazu muss man vielleicht erst mal mit dem Irrtum aufräumen, dass die Amerikaner am kommenden Wahltag dazu aufgerufen werden, ihren Präsidenten zu wählen: Auch wenn der Wahlkampf diesen Anschein erweckt, wird am 6. November 2012 nicht eine einzige Stimme für die Wahl des nächsten US-Präsidenten abgegeben werden. Häh? Geht’s noch? Steht doch überall, dass dann der Präsident gewählt wird … ist aber falsch: Gewählt wird das Electoral College, also ein Wahlkollegium auf bundesstaatlicher Ebene, das dann am 17 Dezember in den jeweiligen Landeshauptstädten seine Stimmen abgeben wird, mit denen dann am 6. Januar 2013 der Präsident gewählt wird.
Die Größe des jeweiligen Electoral College eines Bundesstaates entspricht der Größe der Kongressdelegation, also der Menge an Abgeordneten und Senatoren, die jeder Staat nach Washington entsendet (und sie ändert sich daher praktisch mit jeder Volkszählung); im Kern sollte sie also proportional zur Einwohnerzahl sein, oder? Genau das ist nicht der Fall. Denn nur die Zahl der Abgeordneten ist abhängig von der Einwohnerzahl, und sie reicht derzeit von 1 für bevölkerungsarme Staaten wie Alaska, Montana oder Wyoming, bis 53 für den bevölkerungsreichsten Staat Kalifornien. Doch die Zahl der Senatoren ist für jeden Staat gleich – es sind immer zwei, egal wie viele Einwohner der Staat hat. Das führt dazu, dass beispielsweise in Kalifornien ein Elector auf 678.945 Einwohner kommt; in Wyoming hingegen, das mit seinen nur 568.300 Einwohnern zwar nur einen Abgeordneten in Washington hat, aber dafür ebenfalls zwei Senanotren und somit drei Elektoren entsenden darf, teilen sich “nur” 189.433 Bürger eine Elektorenstimme. Oder, andersherum gerechnet: Eine Stimme in Wyoming wiegt 3,6 Mal mehr als eine Stimme in Kalifornien. Dieser “Kleinstaatenbonus” bei den Bundeswahlen war übrigens ein explizites (und notwendiges) Zugeständnis der Verfassungsgeber; andernfalls hätten sich die kleinen Bundesstaaten, aus der (berechtigen) Sorge heraus, von den Bevölkerungsmassen der großen Staaten untergebuttert zu werden, der föderalen Union verweigert.
Nicht jede Stimme zählt
Na gut. Dann wiegt halt eine Stimme in Wyoming oder Alaska schwerer als eine Stimme in New York, Texas oder Kalifornien (was aber dafür wiegt Kalifornien insgesamt immer noch mehr als die 15 kleinsten US-Staaten zusammen). Aber so lange jede Stimme zählt, ist ja zumindest das Prinzip von “One Man, One Vote” gewahrt, oder nicht? Nein, leider auch nicht. Denn wie schon gesagt, am 6. November geben die US-Wahlberechtigten nur ihre Stimme für das Electoral College ab, nicht für den Präsidenten. Und dieses Wahlkollegium setzt sich nicht proportional nach den Stimmverhältnissen im Staat zusammen, sondern folgt dem Prinzip “Winner takes all!” – egal, wie knapp oder deutlich die Wahl für einen Kandidaten ausgeht, er erhält immer alle Stimmen des jeweiligen Electoral College. (Maine und Nebraska haben zwar ein System, bei dem es theoretisch auch ein Splitting der Elektoren zwischen zwei Kandidaten geben kann, doch in der Wahlpraxis ist dieser Fall bisher nie eingetreten). Aber das heißt in der Praxis nichts anderes, als dass nur die Stimmen für den Sieger gezählt werden (a propos: so lange in den USA keine Frau ernsthaft für die US-Präsidentschaft nominiert ist, spare ich mir jetzt mal die “genderneutrale” der/die-Aufreihung); alle Stimmen, die nicht dem Wahlsieger zugedacht waren, werden praktisch in die Tonne geworfen. Ein Republikaner, der beispielsweise im Staat New York seine Stimme abgibt, könnte sich theoretisch auch den Weg zur Wahlurne sparen, da seine Stimme hier keine Chance hat (das gleiche gilt übrigens für einen Demokraten in Arizona). Und so kann es kommen, dass ein Kandidat zwar eine klare Mehrheit der Stimmen insgesamt erreicht, aber dennoch am Ende nicht zum Präsidenten gewäht wird: Al Gore beispielsweise zog bei den Wahlen im Jahr 2000 über 540.000 Stimmen mehr als George W. Bush auf sich.
Wer nun denkt, dass ich damit die Legitimtät oder zumindest den gesellschaftlichen Wert der bevorstehenden US-Wahlen anzweifeln oder gar bestreiten will, so irrt sich der (oder die). Denn auch in Deutschland wird beispielsweise, als Folge der so genannten 5-Prozent-Hürde, nicht jede Stimme faktisch gezählt. Und von wegen Stimmengleichheit will ich nur mal ein schnelles Beispiel herausgreifen: Um beispielsweise im relativ großen Wahlkreis Wetterau (Hessen) gewählt zu werden, braucht ein Bundestags-Direktkandidat etwa 35 Prozent mehr Stimmen – in absoluten Zahlen – als ein Kandidat im benachbarten Wahlkreis Hochtaunus. Drei WählerInnen dort wiegen am Ende so vel wie vier Wahlberechtigte im Wetteraukreis… Aber entscheidender ist, dass diese scheinbaren Ungereimtheiten den USA vom Start weg eine nahezu unvergleichliche politische Stabilität beschert haben. Nicht im Sinn, dass immer nur eine Partei regiert (auch wenn es lange für einen Europäer schwierig gewesen sein dürfte, die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern aufzuspüren), aber in dem Sinn, dass immer jemand regiert.
Kommentare (23)