Amerikaner bezeichnen ihr Land ja gerne – und absolut unironisch – als “greatest democracy on earth” (wobei “greatest” hier unbedingt mit “großartigste” zu übersetzen ist). Und spätestens seit dieser Rede, mit der Präsident Woodrow Wilson im April 1917 den Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg begründete, sehen sie es als ihre Mission, die Welt demokratischer zu machen. Am kommenden Dienstag ist Wahltag in den USA – diese selbst erklärte großartigste Demokratie der Welt wird ihren nächsten Präsidenten bestimmen. Und was könnte demokratischer sein als eine freie, gleiche und geheime Wahl?

Da wäre zum einen schon mal zu nennen, dass der Begriff “Demokratie” an sich schon irreführend ist, da selbst in den besten Demokratien der Welt (unter denen die USA übrigens auf einem ernüchternden 19. Platz landen) nicht wirklich der Demos regiert, sondern die Beteiligung des Volkes sich darauf beschränkt, in regelmäßigen Abständen Vertreter zu wählen, von denen es sich regieren lässt. Und zum anderen ist in der Tat eine pure Demokratie vermutlich gar nicht erstrebenswert, da sie – wie der französische Politikwissenschafter Alexis de Toqueville warnte, zur “Tyrannei der Mehrheit” führen würde – eine Gefahr, der sich die amerikanischen Gründerväter Ende des 18. Jahrhunderts schon durchaus bewusst waren. Nicht ganz ohne Grund grummelte der US-Schriftsteller Gore Vidal über das stetige Geplapper von der “großartigsten Demokratie”:

“The founding fathers hated two things, one was monarchy and the other was democracy, they gave us a constitution that saw to it we will have neither.” (Die Gründerväter hassten zwei Dinge, das eine war Monarchie, das andere Demokratie, und sie gaben uns eine Verfassung, die dafür sorgt, dass wir keins von beiden haben werden.)
Interview mit der australischen Rundfunkstation ABC im November 2001

Na gut, aber die Wahlen folgen doch wenigstens dem modernen demokratischen Grundprinzip, dass jede Stimme gleich viel zählt, nicht wahr? Nein, falsch! Und zwar in mehrfacher Hinsicht:

Nicht jede Stimme zählt gleich

Es ist schon das erste Missverständnis zu glauben, dass die USA dem Prinzip “One Man, One Vote” (und dank des 19. Verfassungsartikels vom 18. August 1920 endlich auch “One Woman, One Vote”) verpflichtet seien. In der Realität zählen manche Stimmen erheblich weniger als andere – und das ist kein Versehen, sondern bewusst so eingerichtet. Dazu muss man vielleicht erst mal mit dem Irrtum aufräumen, dass die Amerikaner am kommenden Wahltag dazu aufgerufen werden, ihren Präsidenten zu wählen: Auch wenn der Wahlkampf diesen Anschein erweckt, wird am 6. November 2012 nicht eine einzige Stimme für die Wahl des nächsten US-Präsidenten abgegeben werden. Häh? Geht’s noch? Steht doch überall, dass dann der Präsident gewählt wird … ist aber falsch: Gewählt wird das Electoral College, also ein Wahlkollegium auf bundesstaatlicher Ebene, das dann am 17 Dezember in den jeweiligen Landeshauptstädten seine Stimmen abgeben wird, mit denen dann am 6. Januar 2013 der Präsident gewählt wird.

Die Größe des jeweiligen Electoral College eines Bundesstaates entspricht der Größe der Kongressdelegation, also der Menge an Abgeordneten und Senatoren, die jeder Staat nach Washington entsendet (und sie ändert sich daher praktisch mit jeder Volkszählung); im Kern sollte sie also proportional zur Einwohnerzahl sein, oder? Genau das ist nicht der Fall. Denn nur die Zahl der Abgeordneten ist abhängig von der Einwohnerzahl, und sie reicht derzeit von 1 für bevölkerungsarme Staaten wie Alaska, Montana oder Wyoming, bis 53 für den bevölkerungsreichsten Staat Kalifornien. Doch die Zahl der Senatoren ist für jeden Staat gleich – es sind immer zwei, egal wie viele Einwohner der Staat hat. Das führt dazu, dass beispielsweise in Kalifornien ein Elector auf 678.945 Einwohner kommt; in Wyoming hingegen, das mit seinen nur 568.300 Einwohnern zwar nur einen Abgeordneten in Washington hat, aber dafür ebenfalls zwei Senanotren und somit drei Elektoren entsenden darf, teilen sich “nur” 189.433 Bürger eine Elektorenstimme. Oder, andersherum gerechnet: Eine Stimme in Wyoming wiegt 3,6 Mal mehr als eine Stimme in Kalifornien. Dieser “Kleinstaatenbonus” bei den Bundeswahlen war übrigens ein explizites (und notwendiges) Zugeständnis der Verfassungsgeber; andernfalls hätten sich die kleinen Bundesstaaten, aus der (berechtigen) Sorge heraus, von den Bevölkerungsmassen der großen Staaten untergebuttert zu werden, der föderalen Union verweigert.

Nicht jede Stimme zählt

Na gut. Dann wiegt halt eine Stimme in Wyoming oder Alaska schwerer als eine Stimme in New York, Texas oder Kalifornien (was aber dafür wiegt Kalifornien insgesamt immer noch mehr als die 15 kleinsten US-Staaten zusammen). Aber so lange jede Stimme zählt, ist ja zumindest das Prinzip von “One Man, One Vote” gewahrt, oder nicht? Nein, leider auch nicht. Denn wie schon gesagt, am 6. November geben die US-Wahlberechtigten nur ihre Stimme für das Electoral College ab, nicht für den Präsidenten. Und dieses Wahlkollegium setzt sich nicht proportional nach den Stimmverhältnissen im Staat zusammen, sondern folgt dem Prinzip “Winner takes all!” – egal, wie knapp oder deutlich die Wahl für einen Kandidaten ausgeht, er erhält immer alle Stimmen des jeweiligen Electoral College. (Maine und Nebraska haben zwar ein System, bei dem es theoretisch auch ein Splitting der Elektoren zwischen zwei Kandidaten geben kann, doch in der Wahlpraxis ist dieser Fall bisher nie eingetreten). Aber das heißt in der Praxis nichts anderes, als dass nur die Stimmen für den Sieger gezählt werden (a propos: so lange in den USA keine Frau ernsthaft für die US-Präsidentschaft nominiert ist, spare ich mir jetzt mal die “genderneutrale” der/die-Aufreihung); alle Stimmen, die nicht dem Wahlsieger zugedacht waren, werden praktisch in die Tonne geworfen. Ein Republikaner, der beispielsweise im Staat New York seine Stimme abgibt, könnte sich theoretisch auch den Weg zur Wahlurne sparen, da seine Stimme hier keine Chance hat (das gleiche gilt übrigens für einen Demokraten in Arizona). Und so kann es kommen, dass ein Kandidat zwar eine klare Mehrheit der Stimmen insgesamt erreicht, aber dennoch am Ende nicht zum Präsidenten gewäht wird: Al Gore beispielsweise zog bei den Wahlen im Jahr 2000 über 540.000 Stimmen mehr als George W. Bush auf sich.

Wer nun denkt, dass ich damit die Legitimtät oder zumindest den gesellschaftlichen Wert der bevorstehenden US-Wahlen anzweifeln oder gar bestreiten will, so irrt sich der (oder die). Denn auch in Deutschland wird beispielsweise, als Folge der so genannten 5-Prozent-Hürde, nicht jede Stimme faktisch gezählt. Und von wegen Stimmengleichheit will ich nur mal ein schnelles Beispiel herausgreifen: Um beispielsweise im relativ großen Wahlkreis Wetterau (Hessen) gewählt zu werden, braucht ein Bundestags-Direktkandidat etwa 35 Prozent mehr Stimmen – in absoluten Zahlen – als ein Kandidat im benachbarten Wahlkreis Hochtaunus. Drei WählerInnen dort wiegen am Ende so vel wie vier Wahlberechtigte im Wetteraukreis… Aber entscheidender ist, dass diese scheinbaren Ungereimtheiten den USA vom Start weg eine nahezu unvergleichliche politische Stabilität beschert haben. Nicht im Sinn, dass immer nur eine Partei regiert (auch wenn es lange für einen Europäer schwierig gewesen sein dürfte, die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern aufzuspüren), aber in dem Sinn, dass immer jemand regiert.

flattr this!

Kommentare (23)

  1. #1 Christian Berger
    5. November 2012

    Naja, es ist auch eine Frage ob eine Wahl demokratisch sein kann, bei der die Leute an einem Arbeitstag mehrere Stunden Schlange stehen müssen. Oder eine Wahl bei der Wahlcomputer eingesetzt werden.

    Nur mal so als Perspektive, das hier sind die “guten” Wahlmaschinen:
    https://www.youtube.com/watch?v=MuWRj1db-wE
    Die werden jetzt abgebaut und durch Wahlcomputer ersetzt, die nur in klimatisierten Räumen funktionieren, und die noch viel einfacher manipulierbar sind.

  2. #2 JAtkins
    5. November 2012

    Amerikaner sehen die Sache mit der Gerechtigkeit bei der Wahl eher pragmatisch: Es treten zwei Kandidaten an und beide haben die gleichen Voraussetzungen und Chancen. Also ist die Wahl gerecht!
    Der große Unterschied in der Demokratie zwischen Deutschland und den USA ist jedoch, dass man in den USA wählen gehen kann und in Deutschland nicht! Es ist einem Amerikaner nur schwer verständlich zu machen, dass man in Deutschland so wichtige Leute wie den lokalen Polizeipräsidenten oder den lokalen Gerichtspräsidenten nicht wählen kann. Amerikaner fragen sich dann, ob wir schon mal was von Gewaltenteilung gehört haben!

    Ich kann in diesem Zusammenhang den Blog usaerklaert.wordpress.com/ nur wärmstens empfehlen.

  3. #3 Michael
    5. November 2012

    Kleine Korrektur: In der Präsidentschaftswahl 2008 kam es in Nebraska tatsächlich zu einem Splitting der Elektoren.
    Da Obama im 2. Wahlbezirk (Omaha) die Stimmenmehrheit erlangte, fiel eine Elektorenstimme an ihn.
    Quellen:
    https://en.wikipedia.org/wiki/United_States_presidential_election_in_Nebraska,_2008
    https://www.huffingtonpost.com/2008/11/14/obama-wins-nebraska-elect_n_143924.html

  4. #4 AndreasM
    5. November 2012

    Eine perfekte Demokratie muss nicht unbedingt die Diktatur der Mehrheit sein.
    Auch wenn bisher noch kein Staat eine entsprechende Demokratie versucht hat, wäre es möglich, die Macht aufzuteilen, so dass nicht die Mehrheit der Stimmen alles bestimmt, sondern jede Stimme einen Teil der Entscheidungsmacht beinhaltet.

    Man stelle sich eine Gruppe aus drei Personen vor, die ihre Entscheidungen demokratisch bestimmen wollen. Zwei davon seien Zwillinge und wollen immer das Gleiche. Nach momentanem demokratischen System würden sie alles bestimmen und der Dritte nichts. Aber das würde er wohl kaum akzeptieren, sondern darauf beharren, dass er einen Teil der Entscheidungen trifft.
    Das ist natürlich nicht besonders einfach auf Staatsebene umzusetzen, aber es ist auch nicht unmöglich.

  5. #5 Stefan W.
    5. November 2012

    Zum Thema Wahl & insbes. Wahlmaschinen gibt es auch einen Podcast, Alternativlos-28 https://alternativlos.org/28/ .

    Ebenfalls interessant, die Sternstunden-Philosophie-Sendung auf 3sat vom Sonntag, übernommen vom Schweizer Fernsehen, mit Herrn Noam Chomsky, der erklärte, dass es in den USA nur eine Partei gibt (die Wirtschaftspartei). Link zum Podcast bitte selbst suchen – einen Ausgangspunkt kann ich bieten: https://www.sendungen.sf.tv/sternstunden/Nachrichten/Archiv/2012/10/30/sternstundeneinzel/Die-Sternstunden-in-den-USA

  6. #6 MJ
    5. November 2012

    “so lange in den USA keine Frau für die US-Präsidentschaft nominiert ist…”

    Ist Jill Stein nicht als Kandidatin nominiert?

  7. #7 Jörg
    5. November 2012

    Und Roseanne Barr in Kalifornien…

  8. #8 Sondermann
    5. November 2012

    Oh je!

  9. #9 Sondermann
    5. November 2012

    „Ich bin bekannt für meine Ironie. Aber auf den Gedanken, im Hafen von New York eine Freiheitsstatue zu errichten, wäre selbst ich nicht gekommen.“

    George Bernard Shaw

  10. #10 wereatheist
    anarchistentummelplatz ;)
    5. November 2012

    @sondermann:
    Es ist Ihnen aber hoffentlich klar, von wem die Freiheitsstatue
    in Auftrag gegeben & bezahlt, wurde, hein?

  11. #11 wereatheist
    5. November 2012

    Mein Tippen und mein Französisch könnten aber ooch besser sein 🙁

  12. #12 Volkan Aydin
    Wohlen (ch)
    5. November 2012

    Naja, man kann über die “Demokratie” lästern wie man will, das Hauptproblem an Wahlen sind die Gelder die in diese Wahlkampfkampangnien Fliessen und so das Wahldenken der Menschen Manipuliert. so werden nur die gefördert die für Lobbyisten auch wirklich intressant sind, selten kommt jemand in eine Position ohne das er sich Prostituiren muss, das schaffen vieleicht gerade mal Promis.

    Zum Wahlsystem mit den Elektoren…. in der Schweiz gibt es ein Änhliches system, und das ist fantastisch, so kann eine Region wie Zürich nicht einfach bestimmen was in der ganzen Schweiz passiert.

    Allgemein emfinde ich das Schweizer wahlsystem als absolut spitze, die Gewaltentrennung ist vorhanden exi-judi-legislative sind klar getrennt.
    Es gibt keinen Presidenten in dem Sinne, es gibt einfach den Bundesrat, dieser setzt sich aus mehren Parteien zusammen, und diese werden von Nationalrat gewählt, die wiederum vom Volk gewählt wird.
    Ausserdem hat das Schweizerische system weitere Vorteile da das Volk selber auf die barrikaden gehen kann, so können sie direkt gesetztesänderungen erwirken oder ablehnen. Einziges Manko: Eben auch, das liebe GELD, Parteispenden müssen nicht angegeben werden.

    Das Hauptsächliche Problem in Amerika ist nicht die Demokratie, sondern der Kapitalismus.

    Meiner Meinung nach kann eine Demokratie nur dan wirklich reifen wenn die Politiker inkl aller Staatlichen behörden keinen Cent verdienen, wenn jemand das gefühl hat er wolle über andere bestimmen (das ist nun mal halt das denken eines Politikers), dan soll er es auch für diese Leute von nutzen sein, und nicht sein eigener…….

  13. #14 Gustav
    6. November 2012

    @Jürgen: Etwas OT, aber weils mich an etwas erinnert hat, das ich erst kürzlich diskutierte.

    da selbst in den besten Demokratien der Welt […] nicht wirklich der Demos regiert, sondern die Beteiligung des Volkes sich darauf beschränkt, in regelmäßigen Abständen Vertreter zu wählen, von denen es sich regieren lässt.

    Das erinnert mich an Popper und sein Werk “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” und andere Texte von Popper dazu. Oder Videos https://www.youtube.com/watch?v=HqlsCIJrj_c (insgesamt fünf Teile)

    Seine These: “Es ist der Fehler aller unserer Verfassungen, dass unsere Parlamente praktisch allmächtig sind. Und diese praktische Allmacht unserer Parlamente wirkt sich dahin aus, dass die regierende Partei praktisch allmächtig ist und das wirkt sich dann weiter dahin aus, dass der regierende Parteiführer praktisch allmächtig ist. Aber die Grundidee der ganzen Demokratie ist die Macht zu beschränken und zu kontrollieren, “nicht zu viel Macht”, das ist die Grundidee der Demokratie. Die Macht muss verteilt sein, so dass nicht zuviel Macht in einer Hand ist. Und das lässt sich wahrscheinlich durch verhältnismäßige einfache Dinge, durch verhältnismäßige einfache Verfassungsänderungen durchführen. Die Demokratie ist ein großes Experiment. Und die verschiedenen Formen der Demokratie müssen gegeneinander ausprobiert werden. Eine Form und eine andere Form. Niemand ist fähig alle Schwierigkeiten, die inneren möglichen Widersprüche vorrauszusehen, die sich durch die Gesetzgebung verwirklichen. Es geht immer alles Mögliche in eine Weise schief, die man nicht hätte vorraussehen können. Das ist der Grund warum man in der Politik eine experimentelle Haltung annehmen sollte.”

    Und das erinnert mich wiederum an Diskussionen in Wien, wenn wieder eine Demonstration auf einer belebten Einkaufsstraße oder am “Ring”, eine wichtige städtische Verkehrslinie, stattfindet. Regelmäßig gibt es dann Stimmen (meist aus der FPÖ oder ÖVP, aber auch aus der SPÖ und vor allem Wirtschaftsvertreter), die ein Verbot solcher Demonstrationen fordern. Da solche Demonstrationen geschäftsschädigend seien oder den Verkehr zu sehr beeinträchtigen. Demonstrationen an den wichtigen großen Ausfahrtsstraßen Wiens werden regelmäßig untersagt (in Österreich müssen Demonstrationen nicht genehmigt werden, sondern sie können unter gewissen Umständen nur untersagt werden). Eben mit der Begründung, das seien wichtige Verkehrsstraßen und es komme sonst zu einem Vehrkehrschaos.

    Abgesehen davon, dass das Demonstrationsrecht im Verfassungsrang steht (als multilateraler Vertrag im Rahmen des EMK sogar über der Verfassung), werden Demonstrationen von Institutionen und den Menschen meist als nervendes Übel angesehen. Das seien doch nur “eine kleine Gruppe von Personen, die ihre Ideologie verbreiten wollen”, so ähnlich das Argument.

    Demonstrationen sind aber, genau so wie ziviler Ungehorsam oder andere Protestformen, Teil der Demokratie. Will man diese Einschränken, schränkt man die Demokratie ein. Will man verhindern, dass “nervige” Kleinstgruppen den Verkehr lahmlegen, dann ist das Ergebnis weniger Demokratie. Und zwar für alle. Aber in einem Land (Österreich) wo über 20 % eine Dikatur wollen (siehe Baumgartner) und sogar 6 % eine Militärdikatur, ist das für mich kaum verwunderlich.

    Für Popper ist eine offene Gesellschaft aber eine, die die Kritikfähigkeit und -möglichkeit der BürgerInnen maximal stärkt. Der Staat bzw. die Institutionen haben die notwendige Aufgabe Kritik zu ermöglichen und zu stärken. Das Gegenteil erscheint mir in den letzten Jahren der Fall zu sein. In Deutschland wird in diesen Tagen protestierenden Menschen die Decken und Wärmflaschen abgenommen. In Österreich sorgte vor zwei (?) Jahren ein Prozess gegen TierschützerInnen für Aufregung. Es wurde ihnen vorgeworfen, sie betreiben eine kriminelle Vereinigung. ZWar wurde von der Staatsanwaltschaft eingeräumt, dass die TierschützerInnen nur legale Taten (Kundgebungen, Blockaden, etc) setze, aber die in ihrer Gesamtheit den Zielen einer kriminellen Vereinigung entsprechen.

    Und zum anderen ist in der Tat eine pure Demokratie vermutlich gar nicht erstrebenswert, da sie – wie der französische Politikwissenschafter Alexis de Toqueville warnte, zur “Tyrannei der Mehrheit” führen würde – eine Gefahr, der sich die amerikanischen Gründerväter Ende des 18. Jahrhunderts schon durchaus bewusst waren.

    Da gebe ich dir recht. Mir graut vor einer Tyrannerei der Mehrheit, wenn ich mir die auflagenstärste Zeitung in Österreich (Krone) ansehe, die schon gegen (Zitat: Krone) “Bimboneger” gehetzt hat oder gegen KünstlerInnen, die (sagen wirs mal vorsichtig ;-)) “ungewöhnliche” Kunst betreiben. Es wäre eine Dikatur des “gesunden” “Volksempfinden”.

    Ein mehr bzw ein absolutes Maximum (was immer das sein mag) an Demokratie widerspricht scheinbar den Minderheitenrechten. Popper hat dem entgegen gesetzt, dass die Gesellschaftsform die beste sei, in der es möglich ist “Herrscher”, Institutionen ohne Blutvergießen auszutauschen – das sei der größte Vorzug der Demokratie und nicht, dass die Mehrheit recht habe.

    Aber für Demokratie braucht es auch Menschen die mit dieser Demokratie umgehen können. Einige der schlimmsten Diktatoren wurden demokratisch gewählt bzw kamen durch demokratische Mitteln an die Macht (es muss nicht immer der selbe als Beispiel genannt werden. Ein Beispiel aus Österreich: der austrofaschistsiche Dollfuss, der durch Notfallgesetzgebung und dann durch die “Selbstauschaltung des Parlaments” dikatorische Macht bekam).

    In einer jetzigen Gesellschaft eine “pure Demokratie” umzusetzen, wäre schlicht gefährlich. Aber so wie sich Demokratien entwickeln (Demonstrationsrechte, Wahlrechte, Frauenwahlrecht), so entwickeln sich auch die Menschen in dieser Demokratie.

    Der Anarchist Peter Kropotkin hat die These aufgestellt, dass mit der “heutigen” Technologie es möglich sei, dass alle Menschen gleichberechtigt mitentscheiden können und so ein Staat überflüssig wird – mit der “heutigen” Technologie, meinte er den Telegraphen.

    Das war und ist natürlich Unsinn, selbst mit heutiger Smartphone-Technologie wäre diese Vorstellung nicht umsetzbar. Ganz ausschließen möchte ich aber nicht, dass die Entwicklung der Demokratie, der Menschen in dieser Demokratie und der Technologie in (wohl fernerer) Zukunft in diese Richtung geht. Das ist dann aber nicht durch Revolutionen möglich, sondern das muss eine gesellschaftliche Entwicklung sein.

    Natürlich – so auch gerne das Argument dagegen – fällt es dann “bösen” Menschen in einer solchen Gesellschaft leicht(er), diese Gesellschaftsform zu Ungunsten der Gesellschaft zu ändern. Aber das ist das allgemeine Wesen der Demokratie. Die Demokratie kann sich selbst zu Fall bringen, eben weil sie der Kritik, auch an sich selbst, einen hohen Stellenwert einräumt. In Österreich wäre das übrigens mit einer 2/3-Mehrheit des Nationalrat und des Bundesrat möglich (ich glaube eine Volksabstimmung ist dazu auch vorgeschrieben).

  14. #15 German JaCobi
    8. November 2012

    Sorry, aber ich mißtraue The Economist mit der Bewertung von demokratischen Verhältnissen in den einzelnen Staaten. Deutschland (Platz 14) mit der Bewertung als vollständiger Demokratie mag zwar demokratisch konzipiert sein, doch ist das, was jemand im Kopf hat und auf Papier bringt noch lange nicht, was tatsächlich geschieht.

    Germany hat 1993 sein Demokratiekonzept ausgehebelt mit einer kleinen, unscheinbaren Rationalisierungshilfe für die Schützer unseres Grundgesetzes in Karlsruhe. Mit dem § 93d BVerfGG. Rotroben können seither sogar monatelang Caipirinha schlotzen bei Studienreisen durch die Welt, während Hiwis im Bundesverfassungsgericht Klagen von Bürgern wegen der Verweigerung des rechtlichen Gehörs auf dem Prozeßweg abweisen. OHNE JEGLICHE BEGRÜNDUNG. Das heißt, die können dabei sogar Caipirinha saufen … Inzwischen ist die Annahmequote für Klagen beim Bundesverfassungsgericht von 2,5 % nochmal kräftig gesunken und Präsident Voßkuhle will Dauerkläger dafür bestrafen, daß sie den Rotroben so viel Arbeit machen …

    Rechtliches Gehör ist sehr wichtig, wenn man versucht, eine Rechtsverletzung in Ordnung zu bringen. In unseren überationalisierten Gesellschaften gibt es viele private private, berufliche, geschäftliche und verwaltete Beziehungen mit ungleich starken Partnern. Alle interpretieren “gerecht” aber nur mit “angemessen, fair”, auch wenn sie dazu stundenlang Wikipedia lesen vor irgendwelchen wichtigen Entscheidungen …

    Und nachdem Juristen Gerechtigkeit für so bedeutungslos halten, daß zwei Pressesprecher des BMJ unabhängig voneinander mir gegenüber behauptet haben, das Wort Gerechtigkeit, das unsere Parlamentarier sehr oft im Mund haben, tauche im GG gar nicht mehr auf, können Rechtsanwälte und Richter auch die vielen wundervollen Gesetze einer der besten Rechtsordnungen der Welt so auslegen, daß Opfer unserer Wohlstandsgesellschaft einen zweiten Schicksalsschlag in Zeitlupe erleiden, wenn sie aus der von Versicherern verwalteten “Gemeinschaftskasse” entschädigt werden wollen …

    Demokratie …? OK, aber mit DEM Volk, das gegen so viel systematischen Schwachsinn auf Grundlage so viel individueller, kollektiver und administrativer Ignoranz nichts unternimmt, möchte ich nichts mehr zu tun haben.

  15. #16 German JaCobi
    8. November 2012

    Gustav,

    nicht nur Popper irrt.

    Die Macht der Mächtigen ist, NICHTS ZU TUN und nur ein wenig mit dem Stöckchen zu schwingen. Den Rest erledigen all die, die Mächtige damit ermächtigen und irgendwann auch nach der letzten Pfeife tanzen … !!

    Ich habe mich seit vielen Jahren mit dem Phänomen beschäftigt, daß Bürger, die in Demokratien wirkliche, KLEINE VOLKSHERRSCHER sein könnten, ihr wichtigstes Bürgerrecht nicht nutzen, um mächtige Plagegeister, Abgreifer, Beschei§er, Machtsauger, in die Schranken zu weisen mithilfe der einzig gewaltbefugten Macht.

    Klärt man sie über dieses Recht auf und sagt ihnen die daraus resultierenden wichtigsten Maßnahmen, die Rechtserfolge ermöglichen bzw. bei Mißachtung verunmöglichen, stellt man fest, daß jahrtausende Unterordnung nicht so ohne weiteres aus ihren Knochen verschwinden.

    Schade. Denn nur ein bi§chen zuviel “Ohnmacht” reicht völlig aus in unserem hochdynamischen Machtgefügen und richtet dann genau das an, was Politiker nicht mehr beherrschen.

  16. #17 German JaCobi
    8. November 2012

    Übrigens: Das höchste Ziel aller Demokratien ist GERECHTIGKEIT. Die Natur folgt seit sehr langer Zeit einem sehr scharfen Maßstab dazu und schuf damit eine atemberaubende Vielfalt, die insgesamt recht gut miteinander zurecht kommt.

    Einzelne mit diesem Gerechtigkeitsprinzip entstehende Erscheinungsformen der Schöpfung, die sich nicht daran halten, werden weggeputzt, zur Randerscheinung. Wir haben so viel Hirn entwickelt, daß wir noch immer die einzigen sind, die sich selbst töten und Artgenossen massenhaft vernichten …

    Mal mit dem linken Auge, mal mit dem rechten auf einen ziemlich verschwommenen Ma§stab schauen und den dann auch noch in Bücherwänden verstecken, kann auf Dauer nicht gut gehen. Unser emsiges Abwärts seit vielen Jahren entsteht nicht durch Viren, Bakterien. Und all die viele Leistung, Kreativität, Disziplin wird auch nicht von Außerirdischen durch’s Ozonloch geschlürft …

  17. #18 Sondermann
    9. November 2012

    Zur Demokratie brauchts einen intelligenten Souverän. Der ist aber weit und breit nicht auszumachen!

  18. #19 Stefan W.
    10. November 2012

    @German JaCobi

    Einzelne mit diesem Gerechtigkeitsprinzip entstehende Erscheinungsformen der Schöpfung, die sich nicht daran halten, werden weggeputzt, zur Randerscheinung. Wir haben so viel Hirn entwickelt, daß wir noch immer die einzigen sind, die sich selbst töten und Artgenossen massenhaft vernichten

    Abgesehen von der Schöpfung, an die ich nicht glaube: Zumindest von Ameisen und Katzen ist bekannt, dass sie Artgenossen töten.

  19. #20 German JaCobi
    10. November 2012

    Ich glaube an die Schöpfung, weil sie für mich lediglich das ist, was ich wahrnehme. Und weil ich versuche, nur das wahr zu nehmen, was sich tatsächlich ereignet, ist mir auch bewußt, daß ich von einem frappierenden Unterschied zwischen dem Verhalten von Vernunftwesen und dem von Ameisen und Katzen spreche, und daß ich keinen Nutzen davon hätte, würde ich in den Wahrnehmungs- und Bewertungsunterschieden anderer herumbohren …

    Mir sind auch Zebrahengste bekannt, die die Jungen von Nebenbuhlern totbeißen. Das tun sie in der Regel aber nicht, um mal in einer eigenen Boing zu hocken und sich zusammen mit Badenixen Schampus reinzuleeren im Whirlpool …

  20. […] der Sicht des Prinzips, dass jede Stimme das gleiche Gewicht haben sollte. Doch erstens ist dies, wie ich hier schon mal versucht habe zu erklären, seit der Gründung der Vereinigten Staaten so gewollt – und zweitens ist diese […]

  21. #22 Wanka
    z. Z. Rom
    26. Oktober 2016

    Manche wundern sich, warum Clinton nicht schon längst unter Anklage steht. https://www.google.de/webhp?sourceid=chrome-instant&ion=1&espv=2&ie=UTF-8#q=hillary%20clinton%20wikileaks (immerhin 44 Mio. Treffer)

  22. #23 Jürgen Schönstein
    26. Oktober 2016

    @Wanka
    ??? In den Wikileaks-Informationen ist nichts, was Hillary Clinton strafrechtich belasten würde. Und außer Trump sowie den Leuten, die ihn für jemanden halten, dessen Worten man irgend eine inhaltliche Bedeutung beimessen kann, wundert sich wirklich niemand, warum Hillary Clinton nicht unter Anklage steht. Seit Jahrzehnten (und davon viele unter der politschen Führung der Republikaner) wird versucht, ihr irgend etwas beizupacken – doch trotz intensivster Bemühungen können selbst ihre schlimmsten Gegner nichts finden. An Versuchen hat’s hier gewiss nicht gemangelt. Also nein, zu Wundern gibt’s da eigentlich nichts.