Selbst die National Rifle Association hatte sich lange Jahre als Vertreterin einer vernünftigen Waffenkontrolle verstanden: Sie trug Gesetzesinitiativen wie den National Firearms Act aus dem Jahr 1934, mit dem Maschinengewehre und andere “Gangsterwaffen” aus dem Verkehr gezogen werden sollten. Dieses Gesetz – eines der wenigen, das auf den Prüfstand des 2. Zusatzartikels geschickt wurde, fand vor dem Obersten Gerichtshof in der Entscheidung U.S. gegen Miller 1939 Zustimmung: Abgesägte Schrotflinten und andere “Gangsterwaffen” zeigten keinen “vernünftigen Bezug zur Erhaltung oder Wirksamkeit einer wohl geordneten Miliz” und daher auch nicht im Sinne des 2. Verfassungszusatzes geschützt. Auch hier war die “well regulated militia” als der eigentliche Zweck des Second Amendment anerkannt und verfassungsgerichtlich bestätigt worden.
Umdeutung von Kollektiv- in Individualrecht
Trotz dieser klaren Wortwahl, trotz der langjährigen juristischen Praxis, die diese Auslegung unterstützte, kam ausgerechnet der erklärte Textualist und konservative (= also jedem juristischen Aktionismus angeblich abholde) Verfassungsrichter Antonin Scalia ausgerechnt in der bislang letzten – und damit der aktuell verbildlichen – Entscheidung des US Supreme Court zum 2. Zusatzartikel der Verfassung zum Schluss, dass damit doch letzlich nur das Recht auf persönliche Selbstverteidigung gemeint gewesen sein konnte: “The Second Amendment protects an individual right to possess a firearm unconnected with service in a militia, and to use that arm for traditionally lawful purposes, such as self-defense within the home”, schrieb er in der Urteilsbegründung District of Columbia gegen Heller am 26. Juni 2008, die der US-Bundeshauptstadt – und damit eigentlich auch allen anderen Gebietskörperschaften – das Recht absprach, den privaten Besitz von Feuerwaffen zu untersagen. Kernstück seiner Argumentation ist, dass die erste Hälfte des Zusatzartikels nur “einleitend” gedacht sei, aber nicht den Umfang der “operativen Klausel” (damit meint er “shall not be infringed – soll nicht eingeschränkt werden) in irgend einer Form begrenze oder erweitere. Als Textualist hätte Scalia eigentlich wissen müssen, dass der Bill-of-Rights-Autor sehr wohl einen Unterschied zwischen Individual- und Kollektivrechten kannte; wenn er den einzelnen Bürger meint, dann spricht er von “Person”, doch wenn es um Kollektivrechte geht, immer nur von “the People”. Schon die ersten Worte der Verfassung machen diese Bedeutung von “the People” klar: “We, the People …” wir, das Volk. Und wenn er statt Staatsverteidigung die Selbstverteidigung gemeint hätte, würde da auch “Self Defense” stehen, und nicht “security of a free State”. Ausgerechnet der vorgebliche Anti-Aktionist Scalia hat also, mehr als 200 Jahre nach der Urfassung, in seiner Mehrheitsbegründung eine neue Interpretation des 2. Zusatzartikels etabliert; das “Grundrecht” auf freie, uneingeschränkten privaten Waffenbesitz wurde damit nicht etwa, wie man meinen sollte, nur bestätigt, sondern de jure erst geschaffen.
Aber, und das ist natürlich entscheidend: Egal, ob es nun falsch verstandener Aktionismus war oder einfach nur eine gewagte Interpretation eines alten Gesetzestextes – die Bedeutung des Second Amendment als Recht auf unbegrenzte Bewaffnung von Individuen ist damit erst einmal festgeschrieben. Sie ist der Höhepunkt einer Kampagne, die von der NRA in den 70-er Jahren (vermutlich als Reaktion auf das von Lyndon Johnson durchgesetzte Waffengesetz, das als Reaktion auf die Ermordungen der beiden Kennedys und Martin Luther Kings enstanden war) begonnen wurde; Ronald Reagan war der erste Präsidentschaftskandidat, der sich den freien Waffenbesitz auf die Fahnen geschrieben hatte, und seither hat noch jeder konservative/republikanische Kandidat sich zu dieser Auslegung des Second Amendment bekannt (und die NRA hat es mit großzügigen Wahlkampfspenden stets belohnt).
Die Illusion der Selbstverteidigung
Andererseits: Das Recht auf Selbstverteidigung ist sicher eines, das nicht von der Hand zu weisen ist. Wenn es mit der Selbstverteidigung halt klappen würde: Bereits 1986 konnten die Mediziner Arthur Kellerman und Donald Reay im Artikel Protection or Peril?, der im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde, den Nachweis antreten, dass Waffen 18 Mal häufiger dazu benutzt wurden, den Waffenbesitzer oder ein Mitglied seiner Familie zu töten, als einen (einbrechenden?) Fremden. Anders ausgedrückt: Die eigene Waffe im Haus ist für ihren Besitzer um ein Vielfaches gefährlicher als für einen potenziellen Angreifer.
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