Die meisten Diskussionen, in die ich hier reingerannt bin, zeigen ja eine Tendenz zum “Konvergieren” – die Diskussionsteilnehmer (oder zumindest jene, die eine gewisse Ausdauer zeigen) finden nach und nach so etwas wie Übereinstimmungen, oder wenigstens Aspekte des Themas, über die sie sich einig werden könnten. Doch daneben gibt es Diskussionen, bei denen ich das Gefühl habe, dass sie eher dazu beitragen, die Gräben zu vertiefen (Schusswaffen-Diskussionen, beispielsweise) und immer neue solcher Gräben aufzureißen. Sexismus ist definitv ein Thema, das zur letzteren Diskussionsform führt. Aber sei’s drum, das ist kein Grund, diese Auseinandersetzung zu vermeiden.
In meinem Posting über Sexismus und Journalismus hatte ich mich über einen Beitrag von Birgit Kelle in TheEuropean echauffiert; aber ich bin mit dem Thema – leider – noch lange nicht durch. Denn das rhetorische Argument, das Frau Kelle als eröffnenden Zug macht, ist auf so vielen Ebenen perfide, dass ich mehr als einen Tag gebraucht habe, um all meine Antworten darauf erst mal grob vorzusortieren. Erst mal, für alle Neueinsteiger: Es ging um den Fall eines nun wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerückten Politikers (ja, ich werde hartnäckig versuchen, so abstrakt zu bleiben, denn es geht hier um Prinzipien, nicht um Personen), der vor etwa einem Jahr, bei anderer Gelegenheit, auf die respektlose Frage einer jungen Journalistin nach seiner Alterstauglichkeit mit einer Bemerkung über ihre Oberweite und ihre Begehrlichkeit reagiert hatte. Diese bis dahin diskret verwahrte Anekdote, aus aktuellem Anlass nun medial verwertet, inspirierte die TheEuropean-Autorin zu der Spekulation, dass uns all der gesamte daraus resultierende #Aufschrei erspart geblieben wäre, wenn statt des Politikers ein allgemein als attraktiv anerkannter Hollywoodstar gestanden hätte (auch dessen Name soll fortan hier ungenannt bleiben, da er mit der Sache nichts zu tun hat und nur als rhetorisches Versatzstück, ohne irgend einen konkreten Anlass, in die Debatte geworfen wurde): “Dann wäre es unter Umständen die Geschichte eines heißen Flirts geworden …”
Ich weiß gar nicht, worüber ich da zuerst entsetzt sein soll. Fangen wir mit der sachlichen Unzulässigkeit dieses “Arguments” an: Es unterstellt erstens, ganz ohne irgend einen Beweis, dass die fragliche junge Journalistin den Hollywoodstar attraktiv findet. Das ist vielleicht plausibel, und es gäbe gewiss niemanden, der sich darüber wundern würde. Aber dennoch ist dies schon mal eine unbelegte Behauptung (vielleicht kann sie ihn auf den Tod nicht ausstehen und hat noch jeden seiner Filme gehasst) – und damit schon mal daneben. Aber damit ja nicht genug: Gleichzeitig wird damit unterstellt, dass sie damit automatisch eine “Anmache” durch den Hollywoodstar begrüßen und genießen würde. Auch dafür gibt es aus dem, was wir wissen können, keinen Beleg, und es negiert beispielsweise die Möglichkeit – die ich hier nur rhetorisch präsentieren will – einer bestehenden Beziehung und einer daraus resultierenden Treue gegenüber dem Partner/der Partnerin. Nicht jede Anmache ist zu jeder Zeit willkommen.
Doch das war jetzt mal nur argumentatives Warmlaufen. Wenn das alles wäre, läge es im Vorpapierkorb, mit dem roten Vermerk “argumentativ schwach”. Doch dass dieses Argument a) überhaupt gemacht werden kann und b) (wie ich aus den Kommentaren sehen kann) durchaus Zustimmung findet, offenbart viel größere, um nicht zu sagen, gewaltigere Probleme.
Da ist beispielsweise das “Schlampen”-Argument. Und das (ich hab mir den Begriff gerade ausgedacht, habe daher Definitionshoheit) besagt: Wenn sie’s mit einem macht, dann macht sie’s auch mit anderen – zumindest dürfen diese anderen dann annehmen, dass ihnen die gleiche “Gunst” zustünde. Eine geradezu klassisches Rechtfertigung von Vergewaltigern: Sie macht’s doch mit allen, also muss sie es auch mit mir machen. Und falls sich jemand fragt, wo sich dieses Argument in dem Hollywood-Star-Szenario verbirgt: Es geht von der Prämisse aus, dass die Anmache durch den Hollywoodstar und den Politiker im Prinzip vergleichbar seien. Und dass dies als Argument gegen die Frau verwendet werden dürfe. Nur mal theoretisch: Was wäre, wenn der Filmadonis tatsächlich an der Bar gestanden und die junge Reporterin “abgeschleppt” hätte? Weil diese hypothetische Möglichkeit besteht, muss – so der argumentative Trick – dem Politiker zugestanden werden, dass er ein vergleichbares Resultat erwarten durfte. Und darum kann in dieser Erwartung und deren Umsetzung in die Tat kein Vergehen liegen. Es müssen also vielmehr die Doppelstandards der Dame sein (die mit dem einem mitgehen würde, mit dem anderen aber nicht), die das Problem verursacht haben.
Eine weitere Implikation dieses Arguments ist die Unterstellung, dass sich aus Attraktivität ein Recht auf Anmache ableiten lässt. Das setzt rhetorisch unsere Komplizenschaft voraus: Es impliziert unsere automatische Zustimmung, dass – aufgrund der Attraktivität des Filmstars – jegliche Aufmerksamkeitsbezeugung seinerseits nur ein Kompliment für die derart Angesprochene sein kann. Das folgert aus der Position, dass es keine öffentliche Empörung gegeben hätte, wenn nicht der Politiker, sondern der attraktive Filmstar die Journalistin angemacht hätte. Nach dem Tenor: Klar, wenn so ein toller Typ was von Dir will, da kannst Du doch nicht nein sagen! Hier wird also das Konzept der Unwiderstehlichkeit ins Spiel gebracht: Bestimmte Personen sind, so die Idee, so attraktiv, dass Widerstand aus ihrer Sicht nicht zu erwarten ist. Der Fehler des Politikers war demnach nicht die Anmache an sich, sondern dass er lediglich seine eigene Unwiderstehlichkeit überschätzt hatte. Klassisch – und wie ich finde, tragisch – spiegelt sich das “Recht” des attraktiven Mannes, zu nehmen was er für das Seine hält, in dieser Goldfinger-Szene wider:
P.S.: Bin ich der einzige, der sich hier als Augenzeuge einer Vergewaltigung (im weiteren Sinn, zugegeben, aber Gewalt ist definitiv im Spiel) fühlt?
Natürlich gibt es daneben auch die Komplementärseite zum attraktivitätsbedingten Recht auf Anmache: Manche Frauen seien demnach so unwiderstehlich, dass selbst unattraktive Männer nicht anders können als auf sie fliegen. Ein Klassiker der Literaturgeschichte …
Sind meine Interpretationen absurd und übertrieben? Überspitzt vielleicht, da sie sich aus einem kurzen – vermutlich gar nicht so weit durchdachten – Wegwerfargument in einem (vermutlich auch nicht so weit durchdachten) Meinungsbeitrag stützen. Aber das erschreckende ist halt die Zustimmung, die dieses Wegwerfargument findet – und die wiederum signalisiert ein breiteres gesellschaftliches Problem. Ein Problem, das real existiert: Wie ich hier in Beauty full Science schon einmal geschrieben habe, spielt die Attraktivität von Täterinnen/Tätern und ihren Opfern bei der gerichtlichen Beurteilung von – beispielsweise – Vergewaltigungen eine große Rolle.
Ich gebe zu, dass es einiger Anstrengung bedarf, all diese Denkfehler aus diesen eher en passant fabulierten Einleitungssätzen des TheEuropean-Beitrags herauszulesen. Aber sie sind darin enthalten – und sie sind von enormer gesellschaftlicher Relevanz. Darum versuche ich es mal hier mit ein paar Prinzipien:
– Das Recht einer Person auf Selbstbestimmung ist unabhängig von ihren körperlichen Eigenschaften oder ihrer Präferenz in Kleidung und Accessoires;
– Attraktivität, wie immer sie definiert sein mag, ist keine automatische Befugnis, die Selbstbestimmungsrechte anderer Personen zu ignorieren;
– es gibt in der Partnerwahl kein “Meistbegünstigungsrecht”: Aus dem Verhalten einer Person gegenüber Anderen lassen sich keinerlei Ansprüche auf gleiches Verhalten gegenüber sich selbst ableiten;
– niemand ist unwiderstehlich.
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