Aus Anlass des Pi-Tages hatte ich einen kurzen Beitrag darüber, was π mit schriftstellernden Affen zu tun haben könnte. Dieser Beitrag wiederum hat den Leser Manfred Kindler dazu inspiriert, eine kleine Geschichte zu schreiben, in der er seiner Tochter versucht, die Zahl π nahezubringen. Ich fand die Erzählung amüsant und interessant genug, dass ich sie – mit Manfred Kindlers Einverständnis – hier im Blog mit allen GeoGraffitico-LeserInnen teilen möchte.
Mimi’s Zahl
Mimi liest die Zeitung. Das hört sich etwas langweilig an, aber dafür muss man wissen: Mimi geht gerade erst in die zweite Schulklasse. Nun ist sie ganz stolz, dass sie auch schon lesen kann. Und nicht nur die Bilder anschauen. Am liebsten liest sie Bilder mit Buchstaben drum herum. Das hat sie schon als Baby gern getan.
Zeitunglesen bildet
So entspann sich kürzlich ein folgender Dialog zwischen uns beiden.
„Papa, was ist Preis?“ – „Hmm, ein Preis? Wie soll ich ich dir das erklären? Also ein Preis gibt an, was ich mit Geld zahlen muss, wenn ich etwas kaufen will.“
Nach kurzem Nachdenken mit gerunzelter Stirn folgt dann Mimis Erkenntnis: „Preis ist also eine Zahl, oder?“ – „Ja, denn Preise werden in Zahlen ausgedrückt.“
Mimi holt hörbar tief Luft und summt befriedigt vor sich hin. Mit Zahlen kennt sie sich aus. Sie kann schließlich schon bis zehn zählen. Langsam wird die verwirrende Welt der Erwachsenen begreifbar. Also, Buchstaben und Zahlen sind für sie sehr wichtig. Deswegen strengt sich auch die Lehrerin so an, allen Kindern das Lesen und Rechnen beizubringen. Jeden Tag immer wieder aufs Neue.
Nach einiger Zeit macht Mimi eine neue Entdeckung. „Papa, hier steht – Neue Zahlen. Wie werden die gemacht?“ –„Neue Zahlen? Nie gehört. Zeig mal her, bitte“
Ein kurzer Blick auf die Schlagzeile klärt mich auf: „Die Arbeitsagentur veröffentlicht neue Zahlen über die Arbeitslosigkeit.“ Tatsächlich: neue Zahlen.
„Hmm, neue Zahlen. Also Mimi, das sind Zahlen, die man vorher noch nicht kannte. Denn vorher hatte man nur alte Zahlen.“
Mimi verfällt wieder in tiefes Schweigen. Alte Zahlen, neue Zahlen. Gibt es dann auch junge Zahlen? Babyzahlen? Opazahlen? Wie werden die geboren? Sterben die dann auch am Ende, die Zahlen? Dann gibt es bestimmt auch eine Zahlenfamilie.
„Papaaa, wer ist denn dann die Zahlenmama?“
Etwas besorgt betrachte ich Mimis Gesichtsausdruck. Es arbeitet gewaltig in ihrem kleinen Köpfchen. Was habe ich da nur wieder ausgelöst? Ich antworte mit einem fragenden Blick und warte auf nähere Erläuterungen. Es bleibt einige Minuten ruhig.
Daher bin ich beruhigt, als das Geraschel der Zeitung wieder einsetzt und Mimi nun eingehend den Anzeigenteil studiert.
„Du, Papaaaa? Preise sind doch Zahlen, hast du gesagt.“ – „Ja, natürlich.“
Ein hastiger Blick informiert mich, dass Mimi bei einem knallbunten Inserat des Supermarktes stecken geblieben ist.
Und über Mimis Gesicht huscht ein Zeichen der Erleuchtung. „Es gibt alte Preise und neue Preise. Also gibt es auch alte Zahlen und neue Zahlen. Ich verstehe das jetzt, Papa. Alte Preise sind alt, weil die Zahlen alt sind und neue Preise haben neue Zahlen. Das ist ja ganz einfach.“
Ich möchte den Glückszustand des Aha-Erlebnisses nicht zerstören und brumme ihr zustimmend zu: „Du bist ein ganz schlaues Mädchen.“
Gebrauchte Zahlen
Derart motiviert nimmt sich Mimi nun die Seiten des Automarktes vor und betrachtet fasziniert die Fotos. „Das ist ja wie unser Auto. Mit der Uschi“. Wir fahren einen Mitsubishi, aber Mimis Namensgebung hat sich mittlerweile in unserer Familie eingebürgert.
Manchmal ernten wir noch irritierte Blicke im Bekanntenkreis, wenn wir erzählen, dass wir mit der Uschi im Urlaub waren.
„Papaaa? Es gibt auch gebrauchte Zahlen!“ – „Was, gebrauchte Zahlen? Also, nee, die gibt es wirklich nicht.“ Mimi zeigt stolz auf eine Überschrift: Gebrauchtwagenpreise. Achso, klar. Preise gleich Zahlen, Gebrauchtwagenpreise gleich Gebrauchtwagenzahlen, und Gebrauchtzahlen kommen also von Gebrauchtpreisen. Gebrauchte Zahlen, ein interessanter Gedanke. Das sind eben keine neuen Zahlen.
Mimi fühlt, dass sie bei Papa etwas ausgelöst hat und nun erwacht ihre Wissbegier.
„Erzähl mal Papa, wie macht man neue Zahlen? Und wie erkennt man, dass sie schon gebraucht sind. Sind die nicht so gut wie die neuen Zahlen? Sag mir mal eine neue Zahl!“
„Also, Mimi, wenn ich dir jetzt eine neue Zahl sage, ist sie ja nicht mehr neu. Denn dann wird sie ja von uns gebraucht. Und eigentlich sind ja alle Zahlen irgendwie gebraucht. Du zählst von eins bis zehn. Die werden von allen Menschen der Welt ständig gebraucht.
Später in der nächsten Klasse lernst du die Zahlen bis einhundert, bis eintausend, bis eine Million kennen. Alles gebrauchte Zahlen. Die haben ich und Mama und Opa und Oma auch schon benutzt.“
„Werden die dadurch nicht schmutzig? Mama wäscht immer meine gebrauchten Sachen. Kann man die Zahlen auch waschen? Werden die dann wieder wie neu?“ sprudelt es aus ihr heraus. Ich denke gerade an ihre Spielzeugzahlen, die schon ziemlich abgegriffen und bekleckert sind. Man sollte sie tatsächlich mal waschen.
„Nein, gebrauchte Zahlen werden nicht schmutzig und muss man auch nicht waschen. Dadurch halten sie ewig und können nicht kaputt gehen.“
Und neue Zahlen
„Aber, Papa, es muss doch auch neue Zahlen geben. Solche, die noch keiner benutzt hat. Wieviele Zahlen gibt es denn? – „Es gibt unendlich viele Zahlen, denn man kann immer weiter zählen, egal wie gross die Zahl ist. Daher hast du recht. Es wird Zahlen geben, die noch nie einer benutzt hat, weil sie so riesig sind, dass noch keiner bis dahin gezählt hat. Das wären dann wirklich neue Zahlen.“
„Toll. Du Papa, schenkst du mir eine neue Zahl? Die noch keiner gebraucht hat? Die nur für mich da ist? Eine ganz riesige neue Zahl!“
Nun gerate ich ins Grübeln. Wie produziere ich eine neue Zahl? Eine, die noch keiner benutzt hat. Die sich sozusagen noch in den weissen Flecken der Zahlenlandkarte befindet. Eine jungfräuliche Zahl. Die Mimi-Zahl.
Ich beschließe, das Problem von der anderen Seite her aufzurollen. „Mimi, welches, glaubst du, sind die Zahlen, die am meisten gebraucht werden?“
Für Mimi keine Frage: „Papa, das ist doch einfach. Das sind die Zahlen eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn. Die werden von allen Kindern jeden Tag in der Schule benutzt. Die kennt doch jeder. Selbst der dumme Johann. Aber ich will doch eine neue Zahl. Die keiner kennt.“
Das Ablenkungsmanöver war umsonst. Ich komme um die Mimi-Zahl nicht herum.
Eine Zahl für Mimi
Mimi-Zahl? Da klickt etwas in meinem Gehirn. Die Zahl Pi. Das ist doch eine besondere Zahl. Keiner kennt den genauen Wert. Daraus liesse sich möglicherweise eine Mimi-Zahl basteln.
„Also, Mimi, höre zu. Ich habe eine Zahl für dich. Eine riesige Zahl. Eine unendlich lange Zahl. Die noch kein Mensch bis zum Ende erblickt hat. Weil es kein Ende gibt. Obwohl fast alle Menschen mit dieser Zahl arbeiten. Sie hat auch einen Namen. Sie heißt Pi.“
„Pi? Aber Papa! Das ist doch keine Zahl. Das mach ich auf Klo. Da kommen keine Zahlen raus. Nur gelbes Wasser.“
Mist, auf diese Assoziation war ich nicht vorbereitet. Ich nehme mir ein Blatt Papier und schreibe groß „Pi“ drauf. „Du hast recht, Mimi, das ist das Pi, was du auf dem Klo machst. Ich meine aber diese Zahl. Sie hat ihr eigenes Zeichen.“ Mit einem eleganten Strich zeichne ich das griechische Symbol für Pi auf das Blatt.
Andächtig streichelt Mimi das Zeichen mit dem Finger. „Das ist meine neue Zahl? Sie gut aus. Wo hast du die hergeholt? Und warum ist die jetzt neu?“
Wir basteln eine Zahl
Jetzt ist Bastelstunde angesagt. Mimi ist hellauf begeistert. Wir holen uns ein Ein- Euro Geldstück, eine Schere, ein Lineal, einen Markerstift und einen Faden.
Dann messen wir den Durchmesser des Geldstücks mit dem Faden ab und schneiden vier gleichlange Stücke ab. „Papa, da steht aber eine Eins drauf.“ – „Ja klar, aber pass mal auf, was ich jetzt damit mache.“
Ich markiere das Geldstück an einer Stelle der Ablaufstrecke. Das zeichne ich mit dem Lineal eine längere Linie auf das Papier. Mit den vier gleichlangen, nebeneinander gelegten Fadenstücken markiere ich die Strecke an den jeweiligen Endpunkten.
Nun lege ich das Geldstück mit der Markierung an den Startpunkt und rolle es entlang des Lineals ab. Dort, wo die Markierung die Linie erneut berührt, mache ich ein Kreuz.
Mimi verfolgt jede meiner Bewegungen, als wäre es ein Zauberkunststück. „Und wo ist jetzt meine neue Zahl?“
„Wie lang ist der Strich vom Anfang bis zu diesem Kreuz? Zähle mal die Fäden.“ Mimi meldet etwas ratlos: „Na ja, vier Fäden sind es nicht ganz, aber mehr als drei Fäden schon. Irgendwo dazwischen.“
„Genau, irgendwo dazwischen. Die Strecke ist genau Pi Fäden lang. Zwischen drei und vier. Wenn man es genauer wissen will, dann muss man den vierten Faden in zehn Einzelteile schneiden und dann ist die Strecke etwas länger als drei und ein Zehntel Faden.“
Das hat Mimi verstanden, aber was hat das nun mit ihrer neuen Zahl zu tun?
„Pass auf, jetzt muss man diesen Zehntel Faden noch mal in zehn Teile schneiden, dann kann man vier davon dazulegen. Aber es reicht immer noch nicht. Jetzt muss man das winzige Fadenstück nochmal zehnteilen und nun genügt ein Teil, aber immer noch nicht genau. Die Zahl Pi ist das Ergebnis, wenn man unendlich oft mal dieses Abschneiden und Dranlegen durchführt.“
Pi und die Unendlichkeit
„Papaa, was ist unendlich oft?“ – Wie bringe ich meiner Tochter jetzt die Unendlichkeit bei.
„Jede Stunde, jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr, bis du groß bist, bist du selbst Kinder hast, bis du Oma geworden bist, und so weiter. Immer ein Stück abschneiden, dranlegen, vom Rest wieder ein Stück abschneiden, dranlegen, … Das hört nie auf. Es gibt keine Ende, verstehst du?“
„Und daraus kriege ich meine Zahl Pi?“ – „Ja, man kann die Zahl Pi auch aufschreiben. Aber nur die ersten Stellen, niemals alle Ziffern, denn sie hört ja nie auf. So sieht sie aus: 3,1415. Und immer mehr Zahlen.“
Mimis Augen leuchten auf. „Die Zahlen kenn ich ja: Drei, Eins, Vier, Eins, Fünf. Warum ist da so ein Haken dazwischen?“ – „Das ist ein Komma. Die 3 sagt, dass du frei ganze Fäden brauchst. Beim Komma mußt du den Restfaden in zehn Teile zerschneiden.
Die Eins sagt dir, nur ein Stück davon dranzulegen. Dann kommt eine Vier, die bedeutet, dass du von diesem kurzen Rest noch vier Zehntel Teile anlegen mußt. Und immer so weiter.“
Mimi schnappt sich die Schere und versucht, den Faden in kleinere Teile zu zerschneiden.
Ein Stück legt sie an und probiert nun den Rest der Fäden weiter klein zu kriegen. Mimi hat das Prinzip der Bruchrechnung also schnell kapiert.
Während sie derart beschäftigt ist, gehe ich schnell zum Computer und lade aus dem Internet die ersten 1000 und 10.000 Ziffern der Zahl Pi herunter. Ich drucke sie auf ein zwei Seiten aus. Ich finde sogar eine 200seitige Datei mit einer Million Stellen und lade sie herunter. Und noch besser: 10 Millionen auf 1.000 Seiten. Ich verzichte auf einen Ausdruck, speichere sie aber auf dem Rechner. Dann stosse ich bei meinen Recherchen auf eine Datenbank mit 200 Millionen Ziffern der Zahl Pi.
Aber auch diese gewaltige Zahlenkette wurde mittlerweile fünfzig Mal übertroffen. Den Weltrekord halten zur Zeit japanische Mathematiker mit 10 Billionen Stellen, die mit einem Großcomputer nach 191 Tagen Rechenzeit ermittelt wurden. Ausgeschrieben würde dieser Pi-Ausdruck über 1000 Bücher von Bibelformat füllen.
Also müsste ich jenseits dieser Schwelle für Mimi eine ungebrauchte Zahl finden.
Zahlenmuster
Aber soweit sind wir noch nicht. Mimi hat zunächst die fünf Ziffern studiert und schaut mich etwas ratlos an:
„Und diese Zahl ist noch nicht gebraucht? Die sieht aber nicht neu aus.“ – „Ja, weil es nicht die ganze Zahl ist. Schau hier, die Ziffern gehen ja immer weiter. Hier sind die ersten eintausend Ziffern deiner Zahl.
„Eintausend Ziffern? Soweit kann ich noch nicht zählen.“ – Ehrfurchtsvoll betrachtet sie den einseitigen Ausdruck, der eine Zahlenkette von 44 Ziffern in 23 Zeilen enthält. Tatsächlich beginnen die ersten Zahlen mit 3,14159.
Aber Mimi schaut sich die Matrix mit ganz anderen Augen an. Schnell findet sie vertraute Muster. Sechsmal die Neun hintereinander. Und eine Viererbox mit Dreiern. Ein Kreuz aus Einsern. Die Fünf, die Null und die Eins in Dreiergruppen.
Und erst senkrecht: die Vierer, die Null, die Dreier, Acht, Neun, alle schön untereinander angeordnet. Dreier- und Vierergruppen. Sorgfältig kringelt sie alles ein.
Dann geht es an die Diagonalen: dreizehn mal wird sie fündig.
Jetzt ist ihr Jagdinstikt erwacht. „Hast du noch mehr Zahlen von meinem Pi?“
Wortlos lege ich ihr die Seite mit den „First 10,000 decimals of PI“ auf den Tisch.
Jetzt sind die Zahlen in 77 Zeilen zu jeweils 13 Blöcken von 10 Ziffern gelistet. Dadurch wird die Erkennung von Mustern wesentlich schwieriger. Dennoch findet sie schnell die sechs Neuner und gleich dreimal vier Siebener in einer Reihe.
„Und hier ist mein Geburtstag 10.12. Und unser Jahr 2013 habe ich auch gerade gefunden. Papaa, hast du noch mehr Zahlen?“
Unser Computer, der Zahlenknacker
Nun ist es an der Zeit, den Computer einzusetzen. 10 Millionen Stellen auf 200 Seiten. Wir blättern einmal kurz durch. Zahlen wie Sand am Meer. Mimi hüpft enthusiastisch auf ihrem Stuhl herum. Mittels der Suchfunktion finden wir auf Seite 97 unsere Postleitzahl 59368. Auf Seite 111 unsere Vorwahl 02389.
Ich werde mutiger. Mein Geburtstag? Achtstellig. Ich werde kurz vor der achtmillionsten Stelle fündig. Nun suchen wir Mimis Geburtsdatum? Mamas Geburtstag? Beides Fehlanzeige. Da müssen wir wohl nach der zehnmillionsten Stelle schauen.
Also gehen wir jetzt in die Datenbank mit den 200 Millionen Stellen. Über diese Suchfunktion klappt es besser: Mein Geburtstag taucht achtstellig nochmals nach 18 und nach 60 Millionen Ziffern auf. Mamas Geburtstag ist wesentlich seltener. Nur einmal nach der 142.149.231. Stelle treten die vertrauten Ziffern zu Tage. Und Mimi?
Der Computer meldet: “The string 10122003 did not occur in the first 200.000.000 digits of pi after position 0. (Sorry! Don’t give up, Pi contains lots of other cool strings.)”
Mimi überlegt jetzt, ob sie traurig darüber sein soll. Aber dann strahlt sie plötzlich: „Das sind ja alles gebrauchte Zahlen. Und die Zahl von meinem Geburtstag ist nicht dabei. Also ist sie doch eine neue Zahl, nicht wahr, Papa? Deine ist ja schon ganz schön viel benutzt worden.“
Erleichtert atme ich auf. Wir haben sie gefunden, Mimis Zahl. In keiner Tabelle und Datenbank verzeichnet. Zumindest nicht in den ersten 200 Millionen Ziffern. Von den 10 Billionen bekannten Stellen erzähle ich vorsichtshalber garnichts.
„Kannst du mir das ausdrucken? Dann kann ich allen meinen Freundinnen zeigen, dass ich eine neue Zahl habe, die noch keiner benutzen konnte.“
„Hör mal, liebe Mimi. 200 Millionen Zeichen kann ich nicht ausdrucken. Soviel Papier haben wir garnicht. Das Drucken würde mehrere Tage dauern. Und du müsstest einen ganzen Schubkarren voll mit Computerausdrucken zur Schule nehmen, wenn du deinen Freundinnen diese riesige Zahl zeigen willst. Und außerdem sind das ja nur die gebrauchten Zahlen. Neue Zahlen sind unsichtbar, denn sonst sind sie durch das Anschauen sofort benutzt worden. Es sind sozusagen geheime Zahlen.“
Beim Stichwort geheime Zahlen habe ich bei Mimi wieder einen Gedankengang angestossen. Geheime Sachen gibt es auch im Feenreich. Und da kennt sich Mimi bestens aus. Schließlich ist sie selbst eine Fee auf Erdenurlaub. Und sie kennt viele Geheimnisse, inklusive der Feensprache und Schrift.
„Du Papa, ich verstehe. Dafür ist die Zahlenfee zuständig.“ – „Zahlenfee? Bastelt die neue Zahlen?“ Wir sind wieder in Mimis Lieblingswelt gelandet.
„Papa, du kennst sie auch. Sie war mal im Fernsehen. Da hat sie weiße Zahlenbälle aus einer großen Kugel herausgenommen. Das waren bestimmt neue Zahlen, die sie dann mit Zauberkraft zu gebrauchten Zahlen erklärt hat. Und jedesmal hat sich einer ganz toll gefreut, weil er mit seinen geheimen Zahlen ganz viel Geld gewonnen hat.“
„Ummppff“ Was soll ich dazu sagen. Mimi flitzt in ihr Zimmer, holt ihr Malzeug und beginnt ein großes Blatt mit einer Szene aus dem Feenreich zu bemalen. Eine lange Kette aus Zahlen schlängelt sich aus dem Zauberstab der Zahlenfee. Ich bin erstmal wieder entlassen.
Die Mona Lisa in der Zahl Pi
Aber so ganz läßt mich der Gedanke nicht los. Die Zahlenfolge in Pi ist unendlich. Das bedeutet, irgendwann muss jedes Geburtsdatum, jede PIN-Nummer, jede Telefonnummer der Welt, ja jede beliebige Zahl in Pi vorkommen. Es muss auch irgendwo die Zahlenfolge 1234567890 zu finden sein, ja sogar die kontinuierliche Reihe von 1 bis 100, bis 1000 und beliebig höher. (Tatsächlich befindet sich die Serie 12345678 bereits nach der 186.557.226ten Stelle der Zahl Pi).
Und es wird noch verrückter: Mit den Zahlen lassen sich Buchstaben kodieren, wie dies im Computer mit den Ascii-Zeichen passiert.
Mit den unendlichen Zahlenreihen von Pi liesse sich somit auch ein unendlich langer Text codieren.
Dort würde mein Name, meine Adresse, meine Veröffentlichungen, sogar dieser Text auftauchen. Shakespeares Hamlet sowie überhaupt alle Literaturwerke der Welt wären in Pi verewigt. Die Bibel mü.te in allen Sprachen aufzufinden sein, ebenso wie Koran und Talmud, in einer einzigen Zahl in friedlicher Koexistenz vereint.
Alle Zeitungsausgaben der Welt, überhaupt jeglicher Text, ob in grauer Vorzeit oder gerade geschrieben, ja, sogar alle zukünftigen Schriftstücke sind in der Unendlichkeit von Pi untergebracht.
Es ist sogar noch mehr in Pi gespeichert. Wenn man Bild- und Farbpunkte mit Zahlen codiert, kann man auch komplette Bilder in Pi finden. Irgendwo in der Unendlichkeit ist das digitale Abbild von meinem Passfoto, von der Mona Lisa, ja, von allen Kunstwerken der Welt, egal, ob vergangen oder zukünftig, abgespeichert.
Und auch die Bildfolgen sind möglich, sie sind bereits auf jeder CD und DVD als Zahlencodes vorhanden. Also ist PI ein unerschöpfliches Filmarchiv. Und es enthält sogar die Filme, die künftig erst noch gedreht werden. – Was für eine Zahl!
Mich persönlich interessieren ja die Tagesschau- Beiträge der nächsten fünfzig Jahre. Aber eigentlich würden mir die Lottozahlen der nächsten Woche schon reichen. Sie sind irgendwo in den neuen Zahlen versteckt.
Mimis Zahlenfee müsste mir dabei helfen können. Deswegen muss man sich mit den Mimis dieser Welt gut stellen. Denn sie sind das Tor zur Unendlichkeit.
© Manfred Kindler; alle Abbildungen wurden der Originalversion der Geschichte entnommen.
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