Als ich am heutigen Freitag endlich von Cambridge weg und in New York ankam (zu jenem Zeitpunkt war die Suche nach dem zweiten Marathon-Bombenleger noch voll im Gange), waren meine Familie und Freunde erleichtert, dass ich endlich aus der Gefahrenzone raus war. Unterwegs kam ich, bei Sturbridge, an einem flach gelegten Waldstück vorbei, das ein tödlicher Tornado vor knapp zwei Jahren umgeknickt hatte, und dessen Schäden sogar auf den Satellitenbildern via Google-Maps nicht zu übersehen sind (die annähernd gabelförmige Schneise in der Bildmitte):
Springfield-Tornado

Und da begann ich zu überlegen: Was ist eigentlich die größte Gefahr, der ich heute ausgesetzt war? Die Gefahr, einer Bombenexplosion zum Opfer zu fallen (immerhin sah es so aus, als ob der zu diesem Zeitpunkt noch gesuchte Dschochar Zarnajew Sprengsätze bei sich haben könnte), oder bei so einer Schießerei ums Leben zu kommen?

Oder von einem Tornado (es stürmte heute in der Tat sehr heftig) fortgerissen zu werden? Auch wenn Massachusetts nicht grade in der Tornado Alley liegt, sind solche gefährlichen Windhosen keineswegs undenkbar hier: Der bereits erwähnte Springfield-Tornado und seine Ableger forderten am 1. Juni 2011 immerhin drei Todesopfer, und der Tornado, der 1953 die Stadt Worcester heimsuchte, war einer der schwersten Tornados in der US-Geschichte und kostete 94 Menschenleben.

Risikoabschätzungen sind gewiss komplizierter als die kleinen Faustrechnungen, die ich hier mal auf die Schnelle gemacht habe – aber ich denke, der Vergleich hat trotzdem einiger Maßen hin. Fangen wir also mit den Tornados an: Die sind zwar spektakulär, aber selten. Und trotz all ihrer Bedrohlichkeit töten sie “nur” etwa 222 Menschen jährlich (gerechnet im Schnitt der Jahre 2010 bis 2012). Mit anderen Worten: Die Chance, als einer von rund 314 Millionen Einwohnern der USA im Laufe eines Jahres von einem Tornado getötet zu werden, liegt bei etwa eins zu 1,14 Millionen.

Die Bomben-Gefahr ist sogar noch geringer: Wie ich dieser Wikipedia-Statistik entnehme, starben seit 1920 insgesamt 3505 Menschen in den USA an den Folgen eines Bomenanschlags, einschließlich der Anschläge vom 11. September 2001 (bei denen, streng genommen, ja keine Bomben, sondern Flugzege als Waffen verwendet wurden) und der Katastrophe des PanAm-Fluges 103 über Lockerbie, der zwar in Schottland passierte, aber ein US-Flugzeug (das juristisch als US-Inland betrachtet werden kann) traf. Das sind pro Jahr also durchscnittlich 38 Todesopfer, auf das aktuelle Jahr umgerechnet ergäbe dies eine Chance von eins zu 8,26 Millionen. Selbst wenn alle Anschläge in einem einzigen Jahr verübt wurden wären, läge das Risiko bei “nur” eins zu 89.560.

Aber die Schießerei, die ja nur ein paar Kilometer von meiner Wohnung entfernt stattfand (die ersten tödlichen Schüsse fielen auf den MIT-Polizisten auf dem Campus, nur wenige Schritte von einem täglichen Weg zur Arbeit), die könnte ja wirklich gefährlich gewesen sein, oder? Nun, im Jahr 2010 starben 11.078 Personen in den USA durch gewaltsamen Schusswaffengebrauch (Selbstmorde und Unfälle sind hier nicht eingerechnet), das bedeutet, dass im Schnitt eine(r) von 28.337 US-BewohnerInnen jährlich durch eine Kugel aus einem Gewehr oder einer Pistole getötet wird. Das ist ein ziemlich unappetitlich hohes Risiko, etwa vergleichbar dem Risiko, an Leukämie zu sterben. Also war es doch gut, dass ich mich aus Cambridge verdrückt* habe?

* “verdrückt” ist nicht das richtige Wort: Der Trip nach New York war schon länger geplant, und ich hatte mir dafür sogar schon das Busticket gekauft – nur fuhren die Busse dann halt nicht …

Aus Gründen der persönlichen Sicherheit jedenfalls nicht. Denn die gefährlichste Aktivität, die ich heute gewagt habe, war mich ans Steuer zu setzen (öffentliche Verkehrsmittel fuhren nicht): Das Risiko, in einem Auto durch einen Verkehrsunfall zu sterben, ist immer noch etwa doppelt so hoch wie das Risiko, erschossen zu werden – für durchschnittlich eine(n) von 14.770 US-EinwohnerInnen wird alljährlich das Auto zur Todesfalle. In der Tat bin ich heute nur knapp einem schlimmeren Unfall entgangen, weil ein Idiot in einem Roadster, dessen weißblaue Marke hier nicht näher genannt werden soll, es offenbar nicht ertragen konnte, dass ich ihn mit meinem alten Jeep Cherokee überholt habe: Als ich gerade dabei war, mit deutlich gesetzem Blinker wieder auf die rechte Spur zurückzukehren, trat er plötzlich aufs Gas und schoss aus dem toten Winkel heraus noch ganz schnell wieder rechts an mir vorbei. Der Schreck saß mir noch stundenlang in den Knochen.

Vielleicht ist das ja der Grund, warum US-Bestattungsunternehmen mit großen Plakaten an der Autobahn werben:
IMAG0848
Wenn ich jetzt nur noch wüsste, was man sich unter einer “Direkt-Einäscherung” vorstellen muss? Kommen die, ähnlich wie die Lieferanten bei Fresh Direct zum Kunden und fackeln den Leichnam zu Hause ab? Grotesk …

flattr this!

Kommentare (16)

  1. #1 ali
    20. April 2013

    “Direct-Cremation”?

    Das ist das Buseinessmodell von “Drive-thru” konsequent (und buchstäblich) zu Ende gedacht.

  2. #2 carl
    20. April 2013
  3. #3 rolak
    20. April 2013

    Erstaunlicherweise wird in solchen Zusammenfassungen äußerst selten gegen das Risiko einer lethalen Funktionsstörung des Denkens abgeschätzt, welches hierzulande zB lässig das Risiko übersteigt, als Verkehrstoter zu enden.

    Drive-thru

    Aber nicht doch ali: Das besonders Günstige an dem Modell ist ja gerade die Platzersparnis weil es keine Ausfahrt braucht, nur die Asche entsorgt werden muß. Kann also auch in einer Sackgasse eröffnet werden.

  4. #4 Christoph Moder
    20. April 2013

    @rolak: in einer Sackgasse = “in a dead end”? SCNR …

  5. #5 noch'n Flo
    Schoggiland
    20. April 2013

    Ist überhaupt jemand mal auf die Idee gekommen, auf die Homepage des Bestattungsunternehmens zu gehen? Da wird die “Direct Cremation” nämlich erklärt:

    Our Direct Cremation Services Include: Transfer of deceased to Abbey Funeral Home (within Connecticut); Obtain information for Connecticut Death Certificate and Medical Examiner’s Fee; Transfer to Crematory; Cremation Procedure

    Ach ja, ein “Immediate burial” hat man dort auch noch im Programm, für nur $3k:

    Our Immediate Burial Services Include: Minimum Professional Service Charge, Transfer at time of death to Abbey Funeral Home (within Connecticut), 20 Gauge Steel Casket, Concrete Outer Burial Container, and Hearse to Cemetery, but DOES NOT include cemetery charges.

  6. #6 rolak
    20. April 2013

    SCNR

    nope to sorry, Christoph, pun intended

    wird .. erklärt

    ochnö

  7. #7 Sven Türpe
    21. April 2013

    Todesursachen sind übrigens eine unerschöpfliche Ressource: Du kannst beliebig vielen davon entgehen und wirst am Ende doch ums Leben kommen. Dein Risiko wächst mit jedem Tag, der vergeht.

  8. #8 HT
    21. April 2013

    “Was ist eigentlich die größte Gefahr, der ich heute ausgesetzt war? Die Gefahr, einer Bombenexplosion zum Opfer zu fallen (immerhin sah es so aus, als ob der zu diesem Zeitpunkt noch gesuchte Dschochar Zarnajew Sprengsätze bei sich haben könnte), oder bei so einer Schießerei ums Leben zu kommen?”

    Du betrachtet alle Risiken über einen längeren Zeitraum. Das allgemeine Risiko von einem Sturm getötet zu werden mag gering sein. Wenn ein riesiger Tornado gerade jetzt durch meine Ortschaft fegt, dann gehe ich dennoch nicht spazieren.

  9. #9 roland
    www.interfoto.at
    21. April 2013

    in den usa würde ich mich eher vor burgern & cola fürchten, da liegt die wahrsch. am höchsten, aber dafür schleichend

  10. #10 threepoints...
    22. April 2013

    Dieses “Direct-Cremation” funktioniert nur deswegen, weil der Ofen unterfrequntiert ist.
    In einer wirklich großen Stadt muß man dazu schon ausserhalb der “Saison” (wann immer das auch ist) sterben, um auch gleich verbrannt werden zu können. Zumindest schien das in Berlin so gewesen zu sein ( als es nur 1 oder zwei Krematorien gab)…

  11. #11 threepoints...
    22. April 2013

    Ach ja, … Risiken und so.

    und da will die Bevölkerung immer Waffen verbieten? Wieso denn nicht erst Autos? (oder eben beides…)
    Also nach der Rangliste der Todesopfer … gehört das Auto zuerst abgeschafft.

    Aber hier kommt der psychologissche Anteil in den Vordergrund.

    Waffentote sind durch andere Menschen verursacht. Verkehrstote überwiegend (oder zumindest scheinbar) in eigener Verantwortung und Schuld. (immer davonausgegangen, es seiein Fahrfehler oder Vorschriftenmissachtung, die den Fahrer selbst in Gefahrbringt und nicht andere – was aber nicht einzige Todesursache ist.)

    Aber das Thema ist unpopulär – trotzdem es offensichtlich statistisch einwandfrei entschieden werden kann – wie man es allgemein üblich wissenschaftlich auch immer handhabt. ….

  12. #12 Regina
    22. April 2013

    @Jürgen, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit in den USA als Unbeteiligte/r tödlich von einer Kugel getroffen zu werden? “Weil” ich grad in der Schusslinie stehe?

  13. #13 Jürgen Schönstein
    22. April 2013

    @Regina #12
    Eine Statistik dazu habe ich auf die Schnelle nicht finden koennen, aber das Risiko ist absolut real: https://www.zerohedge.com/news/was-nypd-responsible-10-11-people-shot-yesterday

  14. #14 Jürgen Schönstein
    22. April 2013

    @threepoints #11

    trotzdem es offensichtlich statistisch einwandfrei entschieden werden kann

    Wenn “einwandfrei” sich allein auf die statistische Methode bezieht, ist diese Aussage zwar akzeptabel, aber wenn sie (was ich eher vermute) unterstellt, dass die Aussagen, die auf der Basis von statistischen Methoden gemacht werden, jenseits aller Kritik, also frei von jeglichen sachlichen Einwänden sind, muss ich allerdings vehement verneinen …

  15. #15 Franz
    23. April 2013

    @threepoints
    Also nach der Rangliste der Todesopfer … gehört das Auto zuerst abgeschafft.

    Autos sind ein wichtiges Transportmittel für viele Menschen und in einer Zeit die Flexibilität geradezu fordert, fast unvermeidbar.

    Waffen hingegen braucht niemand.

    Deshalb wird Schaden hier eher toleriert und es wird auch viel getan. Die Todesrate im Straßenverkehr sinkt.

  16. #16 Sven Türpe
    24. April 2013

    Waffen hingegen braucht niemand.

    Polizistinnen und Polizisten, Soldatinnen und Soldaten, Jägerinnen und Jäger, Sportschützinnen und Sportschützen, Räuberinnen und Räuber, Selbstverteidigerinnen und Selbstverteidiger — niemand?