“Gestatten: Archicebus achilles. Tut mir leid, dass ich mich heute erst vorstelle, wo wir uns doch vor zehn Jahren das erste Mal begegnet sind, aber es dauert halt ein bisschen, bis man 55 Millionen Jahre Vorgeschichte aufgearbeitet hat.” So, oder so ähnlich, könnte die Biografie des jüngsten, weil ältesten Mitglieds unseres Primatenstammbaums eingeleitet werden.

Die Geschichte von A. achilles ist so ziemlich das genaue Gegenteil der Story von Darwinius massilae, dem bis dahin ältesten (?) Primatenfossil, das 2009 mit einem geradezu unappetitlichen Medienrummel präsentiert wurde, obwohl die wissenschaftliche Sachlage – und auch die Einordnung des von einem Fossilienhändler erworbenen Exemplars – im besten Fall unklar, wenn nicht eindeutig umstritten war. A. achilles war vor einem Jahrzehnt von einem chinesischen Bauern in der Provinz Hubei gefunden worden (hierbei verlasse ich mich mal auf die Recherche meines Kollegen John Wilford Noble von der New York Times); seine Bedeutung wurde zwar schnell erkannt, aber die beteiligten ForscherInnen nahmen sich eben diese zehn Jahre Zeit, um das etwa handgroße Skelett zu analysieren. Und selbst dann trommelten sie eher leise: Ihre Ergebnisse, die nach allen Maßstäben als spektakulär angesehen werden könnten, wurden zwar in der aktuellen Ausgabe von nature publiziert, aber sogar in diesem Umfeld werden sie noch von den Sonder-Artikeln zum 100. Jubiläum des Bohrschen Atommodells überschattet.

Was können wir also von A. achilles (der seinen Artnamen der ausgeprägten uns sehr “modern” wirkenden Ferse des Fossils verdankt) lernen” Erstens, dass die Entwicklung der Primaten mindestens seit 55 Millionen Jahren im Gang ist, denn so alt ist dieses Fossil (D. massilae brachte es “nur” auf 47 Millionen Jahre); zweitens, dass die Trennung zwischen den Feuchtnasenprimaten (Strepsirrhini, früher auch Halbaffen genannt) und den Trockennasenprimaten (Haplorrhini), zu denen auch die erdgeschichtliche “Rotznase” Homo sapiens zählt, noch mehr als diese 55 Millionen Jahre zurück liegen muss, denn A. achilles wird in dem nature-Paper eindeutdig den Haplorrhini zugeordnet. Drittens, dass diese frühen Vorfahren offenbar eher tagaktiv waren (wird wohl aus den vergleichsweise kleinen Augen gefolgert). Und viertens, dass die Primaten ihren Ursprung offenbar nicht in Afrika haben (wie angesichts der dort sehr erfolgreichen Geschichte dieser Ordnung vernutet werden konnte), sondern in Asien. Was wieder neue und spannende Fragen aufwirft, da Primaten seit etwa 38 Millionen Jahren ihre fossilen Spuren in Afrika hinterlassen haben – als eine Landbrücke zwischen Afrika und Eurasien noch rund 20 Millionen in der Zukunft lag …

Aber auch wenn A. achilles einen Platz auf unserem Stammbaum hat, ist er doch nicht unser Vorfahr, wie ich aus der nachfolgenden nature-Abbildung entnehme:
nature12200-f4.2
Wer also nach irgendwelchen “Missing Links” sucht, oder gar (wieder mal?) die Entdeckung desselben feiern möchte, wird weiter suchen müssen.*

* Oder es besser gleich bleiben lassen, weil die Idee eines “Missing Links” angesichts der Prinzipien der Evolution absolut bedeutungslos ist.

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Kommentare (4)

  1. #1 MartinB
    7. Juni 2013

    Du wirst in einem Kladogramm nie einen direkten Vorfahr ablesen können, das erlauben die durch ihre Konstruktion nicht.

  2. #2 Jürgen Schönstein
    7. Juni 2013

    Hat ja auch niemand behauptet, oder? Aber die Position von A.achilles in diesem Kladogramm zeigt, dass es den Tarsiern zugerechnet wird, nachdem sie sich von den “echten” Affen getrennt haben. Und das sagt uns was.

  3. #3 RainerM
    7. Juni 2013

    Die Aussage, dass die Primaten in Asien entstanden sind, kann ich nicht nachvollziehen, und sie taucht auch anscheinend im nature-paper selbst nicht auf.

    Fossile Primaten (incl. Strepsirrhini) aus dem frühen und mittleren Eozän kennt man offenbar aus Nordafrika, Deutschland (Darwinius), Asien und Nordamerika. Funde aus der Zeit der Aufspaltung der Halbaffen und Affen liegen noch gar nicht vor.

    Andererseits sind die Koboldmakis vollständig auf Südostasien beschränkt. Da kommt es jetzt auch nicht sooo überraschend, wenn einer ihrer ursprünglichsten Vertreter aus China kommt.

  4. #4 Bettina Wurche
    10. Juni 2013

    Vielen Dank für die klaren Worte zum “missing link”.
    Als Ida (Darwinius massillae) als missing link zum Menschen sich durch die Presselandschaft hangelte, habe ich fast geistigen Brechdurchfall bekommen. Am Allerschlimmsten war für mich, dass KollgInnen das dann auch noch unreflektiert nachgeplappert haben, obwohl es im Original-Paper anders und korrekt stand.
    Fazit: Wenn es um irgendwelche Primaten-nahen Fossilien geht, setzt offenbar bei vielen Rezent-Primaten das Gehirn aus.
    Faszinierend.

    Über die frühen Fossilfunde in Asien und Afrika muss ich noch nachdenken.
    Das läßt gleich mehrere Fragen aufkommen…