Vor ein paar Tagen hatte Cornelius Courts in seinem Blog BlooD’N’Acid ein engagiertes Plädoyer für das Erlernen von Mathematik geschrieben. Und obwohl ich Mathe nie zu meinen bevorzugten Fächern zählen mochte, stimme ich dem uneingeschränkt zu.
Aber als Vater eines Kindes, das vom ersten Schultag an mit der ganzen Rechnerei gekämpft hat, will ich dem hinzu fügen: Wichtig ist vor allem, wie Mathematik – oder erst mal ganz einfach auch das Rechnen – vermittelt wird. Aber vor allem in amerikanischen Schulen steht’s da nicht zum Besten (und da ich fürchte, dass pädagogische Moden – wie alle Moden – inzwischen globale Tendenzen angenommen haben, könnte es an deutschen Schulen ähnlicvh aussehen). Wenn dies bisher nur meine subjektive Vatermeinung war, sehe ich nach der Lektüre dieses Meinungsbeitrags in der New York Times, dass ich mit dieser Einstellung nicht alleine bin. Ich weiß ja nicht, wie Rechnen – später Mathematik – in Deutschen Schulen unterrichtet wird, aber falls es dem amerikanischen Modell entspricht, oder es Tendenzen gibt, dieses politisch sehr populäre Modell zu adaptieren, will ich hier gerne eine Debatte dagegen anzetteln.
Es geht dabei um das Konzept des Entdeckenden Lernens. Generell finde ich, dass dies eine großartige Idee ist – anstatt Kindern “Wissen” einzutrichtern, das sie gefälligst erstens glauben sollen, und zweitens dann mehr oder weniger auswendig lernen müssen, werden sie motiviert, sich ihr Wissen selbst zu erarbeiten. Auszuprobieren, nachzufragen, kurz: zu erforschen. So wie es auch mehr Spaß macht (und als pädagogisch wertvoller gilt), auf dem Abenteuerspielplatz eigene Spiele zu entwickeln und Regeln zu entdecken, als diszipliniert zu schaukeln und zu rutschen.
Und natürlich wurde dieses Prinzip auch auf das Rechnen, die Mathematik übertragen; das TERC-Lehrkonzept ist zumindest hier an der US-Ostküste das Modell, an dem sich die Grundschul-Lehrpläne orientieren. Im Wesentlichen beruht es darauf, dass den Kindern eben nicht mehr jene stupiden Fakten wie das Einmaleins oder die Regeln der Dreisatzrechnung eingetrichtert werden; im Gegenteil: es wird von ihnen erwartet, dass sie eigene Wege – und nicht nur einen Weg, sondern immer mehrere – finden, um als Textaufgaben präsentierte Probleme zu lösen. Selbst so simple Prozesse wie das “mechanische” Addieren oder Multiplizieren von Zahlen wird nicht gelehrt, sondern den Kindern werden Konzepte präsentiert, beispielsweise grafische Ansätze wie den Zahlenstrahl oder das Ausmalen von Flächen – und sie müssen ihre Ergebnisse typischer Weise mit drei oder vier verschiedenen Ideen finden.
Ich gebe zu, dass ich nie den Sinn verstanden habe, warum mein Sohn vier verschiedene Wege finden musste, auf die Summe von 9 und 12 zu kommen, oder was drei mal vier ist, wenn es doch ganz simple und altbewährte Rechenschritte gibt, die ihm helfen könnten, solche Aufgaben in Zukunft zuverluassig zu lösen. Aber ich dachte halt, dass dies nur mein altmodischer deutscher Elternverstand war, der sich dagegen sträubte. Und akzeptierte die Philosophie, dass “mechanisches” Rechnen keine höhere Denkleistung umfasst als es das Eintippen von Zahlen in einen Taschenrechner täte. Doch von Alice Crary und W. Stephen Wilson lerne ich nun in dem oben verlinkten NYTimes-Beitrag (dessen Lektüre ich empfehle, auch wenn sie nicht unbedingt einfach ist – vor allem, weil nicht immer ganz klar ist, worauf die Autorin und der Autor hinaus wollen), dass dies ein viel grundsätzlicheres und kontroverseres Problem ist. Und die Spezialistin in der Schule meines Sohnes gestand, dass sogar die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler in Schulsystem von Cambridge Probleme mit Mathematik hat. Beruhigend einerseits, weil mein Sohn offenbar kein Einzelfall ist. Beunruhigend, weil ich mich nun sehr zornig frage, warum an einem System, dessen Nutzen selbst von Fachleuten bezweifelt und in der Praxis nicht erkennbar ist, so hartnäckig festgehalten wird.
Die Frage, die ich hier mal in den Raum stellen will, lautet: Ist es unkreativ, Kindern simple Algoritmen zu vermitteln? Leidet das kreative Denken darunter, wenn sie nicht vier verschiedene Wege erforschen müssen, das gleiche Ergebnis zu erzielen? Ist Faktenwissen, wie beispielsweise das Einmaleins, dem problemlösenden Denken abträglich?
Pauken ist sicher kein tragfähiges pädagogisches Konzept. Aber ist es nicht zu viel verlangt, wenn Kindern (um mal eine Analgie zu benutzen) lernen sollen, wie man kreativ Musik macht, indem sie sich selbst die Konzepte von Harmonie und Tonalität erarbeiten müssen – und dann auch noch selbst herausfinden müssten, wie man den Geigenbogen hält und Noten liest? Oder besser noch, wie man sich eine Geige baut? Ist es nicht eine unsinnige Zeitverschwendung, sich bewährte musikalische Techniken selbst erarbeiten zu müssen – Zeit, die statt dessen darauf verwendet werden sollte, Musik zu begreifen? Oder, um auf meine Titel-Analogie zurückzukommen: Ist Mathematik lernen ein Abenteuerspielplatz, oder haben Schulpolitiker hier den Spielplatz mit einer Baustelle verwechselt, wo Kindern mehr Zeit damit verbringen müssen, Materialien zu finden und herabzuschleppen, als kreativ zu spielen?
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