Da mir ein Zufall heute die Sonntagsausgabe der New York Times beschert hat (mein normales Abo umfasst nur die Wochentags-Belieferung; der Papierverbrauch der Samstags- und Sonntagsausgaben ist fast schon obszön), habe ich heute gleich drei Lesetipps anzubieten. Sie alle haben etwas gemeinsam: Sie handeln von der menschlichen Psyche – mal eher unter klinischen Aspekten, mal als “Testimonial” von Betroffenen. Aber lesenswert finde ich sie alle.
Gleich auf der Titelseite geht es um The Selling of Attention Deficit Disorder – genauer gesagt darum, dass die in den vergangenen zwei bis zweieinhalb Jahrzehnten geradezu explosionsartig angestiegene Zahl von ADHS-Diagnosen mit einer massiven Pharma-Werbekampagne im geichen Zeitraum korelliert. Und den Verdacht, dass dies kein Zufall sein könne, äußert kein “Schreiberling” (wie meine Zunft so gerne abfällig bezeichnet wird) oder ein Crank, sondern Dr. C. Keith Conners, ein emeritierter Professor für Psychologie an der Duke University und ein anerkannter Experte zu dieser Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung. Und er wäre gewiss der letzte, der die Test- und Diagnoseresulate anzweifeln würde – denn er ist der Entwickler eines anerkannten Diagnoseinstruments, des nach ihm benannten Conners-Tests. Doch während historisch etwa fünf Prozent aller Kinder eine solche Diagnose erhalten hatten, sind die Zahlen nun auf 15 Prozent aller Kinder im Oberstufenalter geklettert. Und das, so warnt Conners, sei “ein nationales Desaster von gefährlichen Ausmaßen”. Aber nicht etwa, weil diese psychische Störung tatsächlich eine epidemiartige Ausbreitung (von 600.000 Kindern, die wegen ADHS im Jahr 1990 behandelt wurden, auf aktuell rund 3,5 Millionen) erfahre, sondern weil sie missbraucht werde: “Das wurde zusammen gesponnen” (im Original sagt er concoction) “um die Abgabe von medikation un nie dagewesenen und nicht vertretbaren Mengen zu rechtfertigen.” (Eine Grafik zeigt, dass sich die Umsätze mit Mitteln wie Ritalin und Adderall in den vergangenen zehn Jahren von unter zwei Milliarden Dollar auf rund neun Milliarden verfünffacht haben).
Ich würde zwar bezweifeln, dass dies alles nur das Resultat einer Pharma-Werbekampagne ist: Ich weiß aus eigener Erfahrung und Anschauung, dass Schulen “unruhige” Kinder (die vielleicht auch nur mit dem Lehrangebot unterfordert sind) die Eltern entsprechend unter Druck und die Kinder dann auf Drogen setzen lässt; gerade bei den so begehrten Privatschulen scheint eine Medikation von Schülerinnen und Schülern alles andere als eine Ausnahme zu sein. Es ist halt leichter, die Kinder medikamentös ruhig zu stellen, als sich mit ihrer natürlichen Energie und Neugier auseinander zu setzen. Und auch Eltern drängen oft auf eine “klinische” Diagnose ihrer Kinder – nicht nur, weil sie dann zusätzliche Betreuung und Unterstützung in der Schule erhalten, sondern auch, weil es sie von der Verantwortung (oder den Selbstvorwürfen) für ein “ungezogenes” Kind befreit. Die pharmakologischen Hilfsmittel sind da natürlich sehr willkommen – aber das ist immer noch etwas anderes als die Annahme, dass allein die Werbekampagnen der Hersteller die “Nachfrage” nach der Diagnose gesteigert hätte.
Und manchmal ist eine Diagnose, selbst wenn sie für eine eher obskure Störung ist, auch für die Betroffenen selbst eine Erleichterung. Dies kommt im nächsten Lesetipp zum Ausdruck: In I’m Sorry, Have We Met? beschreibt ein Jurist namens Mark Herrman die Probleme mit seiner Unfähigkeit, sich Gesichter zu merken – und die Erleichterung, als er erfuhr, dass es eine anerkannte psychische Störung ist, die Prosopagnosie (Gesichtsblindheit) genannt wird und an der auch der Schauspieler Brad Pitt leidet. Ich find’s lesenswert.
Der dritte Lesetipp bezieht sich nicht nur auf die geistigen Innenwelten eines Mörders, was an sich schon ungewöhnlicher Lesestoff ist: Ich finde den Beitrag The Killer Who Supports Gun Control desNYTimes-Kolumnisten Nicholas Kristof, der ziemlich genau ein Jahr nach dem Kindermassaker von Newton geschrieben wurde, vor allem deswegen interessant, weil er dem Standard-Argument gegen Waffenkontrolle eine sehr deutliche und direkte Antwort entgegen hält. Dieses Standard-Argument lautet, dass es ja immer Menschen sind, nicht die Waffen, die töten, und dass die tödlichen Handlungen dann halt mit anderen Mitteln und/oder Waffen ausgeführt würden. Dieses “Argument” wurde zum Beispiel bei diesem Beitrag hier in meinem Blog ziemlich schnell und ziemlich hartnäckig verfochten.
Nun, Kristof lässt hier in der Zeitung und in einem Gastbeitrag auf seinem Blog einen verurteilten Mörder namens John Lennon (ja, der heißt wirklich so) zu Wort kommen: “… without a gun I would not have killed …” Und er beschreibt sehr klar, wie es zu der Tat gekommen ist und warum er sie, ohne leicht verfügbare Waffen, nie hätte ausführen können. Mehr noch: Lennon hat am eigenen Leib erlebt, dass es ohne Schusswaffen eben nicht so einfach ist, einen Menschen umzubringen – er hatte einen Mordanschlag überlebt, den ein Freund seines Opfers im Gefängnis mit einem Eisdorn auf ihn verübte.
He sneaked upon me in the prison yard like I sneaked upon his friend in a Brooklyn street. When I turned, I saw his arm swing for my neck. I weaved. Then I felt the piercing blows, as he gripped my shirt and dug into my side. Pressured by the blood-thirsty crowd, he stabbed me six times because I shot his friend to death. The ice pick didn’t do the job, though. He got away with it because we were in a blind spot of the yard, and I never told on him. Prison ethics. While my assailant’s intent was clear, the weapon he had access to was insufficient. Therefore I lived.
Aber vielleicht finden andere LeserInnen ja den Artikel über die Plastikverschmutzung in den Großen Seen interessanter, oder das Plädoyer gegen die offenbar unnötigen und unnützen Nahrungsergänzungsmittel, oder Listen Up, It’s Neutrino Time, in dem Ray Jayawardhana den Rummel um das Higgs-Boson für passé erklärt; dem Neutrino gebühre nun der Ruhm und die Ehre. Jede Menge Lesestoff in einer einzigen Zeitung …
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