Nichts wäre mir lieber, als mir meine akademische Umwelt am Massachusetts Institue of Technology als eine “unschuldige” (im romantischen Sinn), vor allem aber als eine sichere Umwelt auszumalen, in denen junge Menschen sich vor keiner Gewalt fürchten müssen. Dass die Gewalt manchmal doch eindringt, haben wir hier ja leider schon auf erschütternde Weise erfahren müssen. Doch Gewalt – in diesem speziellen Fall: sexuelle Gewalt – ist leider Teil meines Alltags, auch wenn sie nicht auf den ersten Blick erkennbar ist: Wie ich dieser Studie entnehmen kann, die vom Unipräsidenten Rafael Reif in Auftrag gegeben wurde, sind 17 Prozent aller derzeitigen Studentinnen und 5 Prozent aller Studenten Opfer sexueller Gewalt geworden. Dass dies leicht unter dem Durchschnitt aller US-Colleges liegt (ca. 19 Prozent, laut dieser Studie), ist dabei wenig beruhigend. Anders ausgedrückt: Von den 40 jungen Frauen und 47 jungen Männern, mit denen ich im laufenden Semester direkt zusammenarbeite (die Klassen selbst haben teilweise fast 200 TeilnehmerInnen – aber es gibt dann auch mehrere Kommunikations-Dozenten), wären demnach, wenn diese Zahl repräsentativ ist, sieben Frauen und zwei Männer bereits Opfer sexueller Gewalt geworden. Neun junge Menschen, die meine Kinder sein könnten…
So simpel darf man natürlich nicht rechnen, denn einerseits hatte die Vollerhebung unter 10.831 Studentinnen und Studenten “nur” eine Rücklaufquote von 35 Prozent; das ist für Umfragen dieser Art zwar schon eine ganze Menge (3844 Antworten), aber das Problem ist, dass sich nicht sagen lässt, inwiefern die Bereitschaft, auf die Umfrage zu antworten, mit der persönlichen Erfahrung des Problems zusammenhängt. Anders ausgedrückt: Es wäre zumindest theoretisch argumentierbar, dass von den restlichen 65 Prozent niemand geantwortet hat, weil sich niemand angesprochen bzw. aus eigener Erfahrung betroffen fühlte. Aber selbst wenn es “nur” drei junge Menschen in meinen Klassen wären, die Opfer sexueller Gewalt wurden, wären das immer noch exakt drei zuviel.
Aber auch die Chance, dass die Zahl eher eine Unterschätzung ist, wäre nicht völlig abwegig. Denn es ist nicht ganz sicher, dass sich alle Befragten darüber klar waren, was sexuelle Gewalt ist. So haben zum Beispiel 46 Studentinnen geantwortet, dass sie gegen ihren Willen sexuelle Penetration erdulden mussten – aber “nur” 38 gaben an, vergewaltigt worden zu sein. Wie anders könnte man ungewollte sexuelle Penetration denn sonst bezeichnen – und doch differieren diese Zahlen sehr deutlich. Das mag unter anderem daran liegen, dass sich die Opfer nur allzu oft selbst die Schuld geben: 14 Prozent aller Befragten (aufgeschlüsselt für die Undergraduates sind es sogar 20 Prozent der Frauen, 25 Prozent der Männer) stimmten der Aussage zu, dass es zu sexueller Gewalt komme, weil sich die Betroffenen selbst in riskante Situationen begeben haben; 13 Prozent glauben, dass die Opfer einfach nicht deutlich genug “Nein” gesagt haben, und 28 Prozent denken, dass Männer ab einem bestimmten Punkt halt nicht mehr wissen, wann sie aufhören müssen (31 Prozent der Undergraduate-Frauen und 35 Prozent der Undergraduate-Männer teilen diese Ansicht):
Inwieweit solche Zahlen auch nur ansatzweise auf deutsche Verhältnisse übertragbar sind, kann ich nicht mal grob abschätzen. Studierende an amerikanischen Colleges – also jene, die auf einen Bachelor-Abschluss zuarbeiten – sind typischerweise dazu angehalten, in Wohnheimen auf oder um dem Campus zu leben; die Chancen auf zu enge “Kontakte” werden dadurch sicher massiv erhöht. Aber andererseits sollte es ja nicht an der Gelegenheit liegen, sondern eine Frage des Bewusstseins sein: Sexuelle Gewalt – die mehr ist als eine gewaltsame Penetration, sondern sich auch in einer ganzen Reihe von Facetten ausdrücken kann – ist durch nichts zu entschuldigen. Der Gedanke, dass fast jede(r) fünfte Absolvent(in) eines US-Colleges ein sexuelles Trauma für den Rest ihres oder seines Lebens herumtragen muss, ist für mich jedenfalls kaum zu ertragen…
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