Das Problem der sexuellen Gewalt an amerikanischen Hochschulen beschäftigt mich nun doch noch ein bisschen länger: In der Sonntagsausgabe der New York Times erschien gestern der Meinungsbeitrag Mishandling Rape, verfasst vom Yale-Juraprofessor Jed Rubenfeld. Und den fand ich, in gewisser Weise, noch verstörender als den Bericht des Massachusetts Institute of Technology zu dem gleichen Thema. Nicht nur, weil ich bei Rubenfeld lese, dass das typische Täterprofil des College-Vergewaltigers das eines Serientäters ist: Im Schnitt, so schreibt der Yale-Jurist, finden die Vergewaltiger sechs Opfer während ihrer Hochschul-“Karriere”. Nochmal: Sechs Opfer pro Täter. Weil sich nur fünf Prozent aller Opfer trauen, die Vergewaltigung zu melden – und die Täter daher eine sehr berechtigte Erwartung haben, ungestraft davonzukommen.
Aber mehr noch: Was mir bisher unbekannt war ist, dass Hochschul-Vergewaltigungen nicht als Straftaten behandelt werden, sondern als disziplinarische Vergehen. Will heißen: Die Fälle werden nicht der Polizei gemeldet und dem Justizsystem übergeben, sondern von einem internen “Schiedsgericht” verhandelt, das Schulstrafen für die Täter verhängt; die rechtliche Basis bildet ein 1972 mit dem Ziel der Bekämpfung von Diskriminierung verabschiedetes Gesetz, das gemeinhin unter der Kurzform Title IX bekannt ist. Doch während der Juraprofessor Rubenfeld in seinem Times-Leitartikel darüber lamentiert, dass dieses System nicht nur gelegentlich aus Sicht der Opfer ungerecht ist, sondern auch zu Unrecht beschuldigten “Tätern” eine faire Be- und Verhandlung vorenthält und darüber sinniert, wo die Grenze zu ziehen wäre zwischen ausgesprochener und unausgesprochener Zustimmung zu sexuellen Handlungen und welche Rolle welcher Alkoholspiegel dabei haben könnte, wundere ich mich nur darüber, ob Rubenfeld – der vermutlich sogar noch zu den progressiveren Denkern hier zählt – überhaupt merkt, dass er an Symptomen herumdoktern will, aber das System ignoriert.
Dieses “System” wird gelegentlich auch als Rape Culture bezeichnet. Und auch wenn es erst mal wie ein feministisches Kampfwort klingt, das der Gesellschaft eine Mitverantwortung an der sexuellen Gewalt zuschiebt, ist sie doch auch ein ziemlich normales gesellschaftliches Phänomen. In den USA, jedenfalls. Und an den Colleges ganz besonders. Wo fange ich mit dem Erklären an?
Vielleicht mit dem Schrieb, den mein Sohn am Freitag aus der Schule mit nach Hause brachte und in dem wir, die Eltern eines pubertierenden Neuntklässlers (wie alle Eltern pubertierender Neuntklässlerinnen und -klässler in Massachusetts und vielen anderen US-Bundesstaaten) dazu angewiesen aufgefordert werden, unser Kind zur sexuellen Abstinenz zu verpflichten. Ich wäre sicher nie auf die Idee gekommen, ihn zu frühem Sex zu ermuntern – aber die intellektuell schlichte Methode, Sex als nicht existent zu erklären (auf das läuft diese Erziehung zur Abstinenz letztlich hinaus: Tut’s nicht, dann müsst Ihr auch nicht wissen, wie es geht …), erzieht die Jugendlichen letztlich nur dazu, nicht zu wissen, wie sie dann später mit sexuellen Situation umgehen sollen. Und darum ist es auch kein Zufall, dass Missbrauch von Sex und von Alkohol – der jungen Amerikanerinnen und Amerikanern ja auch bis zu ihrem 21. Lebensjahr vorenthalten und dadurch zum mystischen Zaubertrank der Erwachsenenwelt wird – an den US-Colleges sehr stark korrelieren; Rubenfelds Einlassungen bestätigen das ja sehr deutlich.
Wenn sich die Problemwahrnehmung darauf reduziert zu debattieren, in welcher Form die Ablehung sexueller Annähung auszudrücken ist, damit sie vor Gericht Bestand hat, und bis zu welchem Grad des Alkoholeinflusses noch eine Zustimmungsfähigkeit anzunehmen sei, dann ist der Zug doch schon aus der Schiene gesprungen: Denn sie beruht auf dem Grundgedanken, dass es einen “natürlichen” Anspruch (muss ich’s dazu sagen: von Männern) auf Sex gibt; dass was nicht ausdrücklich verweigert wird (und vielleicht selbst dann noch), damit automatisch schon frei(willig)gegeben wurde. Und damit letztlich dem Opfer die Schuld zugeschoben wird: Warum hat sie sich nicht deutlicher gewehrt? Wenn also junge Männer allein schon aus der Zustimmung einer Kommilitonin, zur Party ihrer Fraternity zu kommen, die Lesart ableiten, dass diese eine prinzipielle Einwilligung zum Sex sei, die nur durch expliziten Protest widerrufen werden kann? Und junge Frauen, die dann Opfer sexueller Übergriffe werden, sich selbst die Mit- oder sogar Hauptschuld daran geben und dementsprechend gar nicht daran denken, die Täter als solche zu bezeichnen? Das ist ein kulturelles Phänomen.
Und darum will ich meinen Sohn nicht zu einer sexuellen Abstinenz erziehen, die dem vorsorglichen Fasten eines Schlemmers gleicht, der es doch kaum noch abwarten kann, endlich über die Stränge zu schlagen. Er soll wissen, dass Sex nicht etwas ist, auf das man mit Erreichen einer Altersgrenze einfach eine Anspruchsberechtigung erwirbt, sondern etwas, das sich zwischen zwei Menschen (typischer Weise) entwickelt – was Zeit braucht.
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