Soso. In Deutschland diskutiert man nun also, Radfahrern das Tragen von reflektierenden Westen vorzuschreiben. Und ich verwette gerne meine zwei Fahrradhelme darauf, dass dies
a) eine Kontroverse auslösen wird, die
b) mit ziemlich den gleichen Argumenten geführt wird wie die Diskussion um Radhelme.
Und da ich mich in der Radhelm-Diskussion gerne und oft aus dem Fenster gelehnt habe, will ich nicht versäumen, dies auch bei der nun anstehenden Westen-Debatte zu tun. Und ich gehe davon aus, dass die Haupt-“Argumente” der Gegner die gleichen sein werden:
1. Helfen nicht in jedem Fall, sind also nutzlos
2. Schreckt Leute nur von Radfahren ab, erhöht also das Risiko für die Volksgesundheit und den Kraftstoff-Verbrauch
3. Erhöht die Gefahren für Radfahrer, weil sie (und die Autofahrer) sich in falscher Sicherheit wiegen
4. Für andere riskante Aktivitäten wird ja auch keine Schutzkleidung vorgeschrieben.
Fangen wir also mit Punkt 1 an:
Bei Radhelmen werden ja mehrere Varianten dieses Arguments bemüht – dass Helme beispielsweise nur bis zu einer Aufprallgeschwindigkeit von ca 20 oder 25 Kilometern pro Stunde ausgelegt sind, bei höheren Geschwindigkeiten also nicht schützen. Oder dass sie nur den Schädel, nicht aber beispielsweise das Gesicht ausreichend schützen (all diese “Argumente” stammen aus den vielen Kommentaren, die zu den oben verlinkten älteren Beiträgen in Geograffitico geschrieben wurden). Dass die meisten Verletzungen bei Radunfällen nicht am Kopf passieren, dass es doch viel sinnvoller wäre, Unfälle zu vermeiden etc. etc. Dass sich diese Argumente zu einem Großteil gegenseitig ausschließen (so ist zum Beispiel das Argument der Unfallvermeidung = defensive Fahrweise unvereinbar mit dem Argument des ungebremsten Rechts der rasenden RadlerInnen, denen 24 km/h zu langsam erscheinen; der Gesichtsschutz impliziert ja bereits die Landung auf dem Kopf, ignoriert also die Schutzwirkung für den Hirnkasten etc.)
In der Tat taucht das Argument, dass auch Schutzwesten nicht immer die Sichtbarkeit erhöhen, bereits auf: Why cycling in high-vis may be not as safe as you think . Und wie bei den Radhelmen werden dann natürlich sofort wissenschaftliche Arbeiten bemüht, die diesen Standpunkt bestätigen. Der eben verlinkte Guardian zieht zum Beispiel diese Studie heran: Attention and search conspicuity of motorcycles as a function of their visual context. Und behauptet, diese Studie belege, dass es keinen eindeutigen Vorteil für die Sichtbarkeit gäbe, egal ob man als Zweiradfahrer weiße, schwarze oder reflektierende Kleidung trage.
Der Haken ist nur, dass diese Studie nicht so undifferenziert ist, wie der Guardian unterstellt: Erstens behandelt sie motorisierte Zweiradfahrer (die sich im Straßenverkehr ganz anders verhalten als Radfahrer, zum Beispiel viel wahrscheinlicher die Überholer sind als die Überholten), zweitens analysiert sie nicht etwa Videos oder sogar Echtzeit-Verkehrssituationen, sondern Fotos, die bei Tageslicht gemacht wurden und auf denen die Probanden dann möglichst schnell die Zweiradfahrer vor wechselnden Kontrasten erkennen sollen. Es ist leicht einsehbar, dass es einen enormen Unterschied macht, ob sich das Objekt (scheinbar) bewegt oder nicht … aber ganz entscheidend ist drittens, dass diese Studie einen klaren Vorteil für reflektierende Westen im Stadtverkehr festgestellt hat. Der verschwindet zwar, wenn man sich an einem sonnigen Tag als Motorradfahrer auf der Landstraße bewegt, aber darum geht’s ja bei der Westen-Diskussion nicht. Nichts an der Studie widerspricht der Erwartung, dass reflektierende, leuchtfarbene Westen die Sichtbarkeit der Radfahrer erhöhen.
Es wird immer Verkehrsteilnehmer geben, die ihre Aufmerksamkeit nicht auf den Straßenverkehr konzentrieren – und ja, dann hilft vermutlich auch eine Warnweste nichts. Aber wer dies als Argument gegen das Tragen einer Weste heranzieht, der wird auch gerne Knollenblätterpilzsuppe essen – die ist, wenn ich diesem Wikipedia-Eintrag glauben darf, auch nur noch in jedem 7. bis 10. Fall tödlich …
2. Verdirbt Radfahrern die Lust aufs Radeln
Hmm, dazu finde ich keine Studie. Typischerweise wird dieses “Argument” als eine persönlich-anekdotische Perspektive präsentiert: “Also ich würde mit sowas nicht rumfahren wollen …”. Eine (ebenso anekdotische) Variante ist, dass durch das Tragen besonderer Schutzkleidung (Helm, Weste) signalisiert werde, dass Radfahren eine inhärent riskante Aktivität sei und dadurch potenzielle Fahhradbenutzer abgeschreckt würden. Dem kann ich ganz anekdotisch entgegen halten, dass zumindest auf den Straßen von Cambridge (Massachusetts) sehr viele Radfahrer bei jedem Wetter (also auch im Winter, bei Schnee und Eis) unterwegs sind, praktisch alle Helm und sehr viele eben auch diese reflektierenden Westen – nebst anderen Reflektoren am Körper – tragen. Sie tun das ganz freiwillig; selbst die gelegenheitsradelnden Benutzer der hiesigen automatischen Fahrradverleihsysteme bringen meist ihre Helme (ein automatisches Helmverleih-System ist derzeit in Entwicklung) und ihre Westen mit. Mangels besserer Untersuchungen würde ich erst mal vermuten, dass der Effekt auf die Fahrradnutzung eher gering wäre. Die Entscheidung, das Fahrrad als Transportmittel zu benutzen, hängt garantiert von mehr Faktoren ab als dem modischen Empfinden.
3. Wiegt die Verkehrsteilnehmer in falscher Sicherheit
Das ist vergleichbar dem Argument, das ja auch bei Radhelmen vorgebracht wurde: Durch das Helmtragen würde die Risikowahrnehmung der Verkehrsteilnehmer gesenkt. Dies stützt sich primär auf eine britische Studie aus dem Jahr 2007: Drivers overtaking bicyclists: objective data on the effects of riding position, helmet use, vehicle type and apparent gender, in der Ian Walker zu dem Ergebnis kam, dass Autofahrer einen helmtragenden Radler mit einem im Schnitt um 8,5 Zentimeter geringeren Seitenabstand überholen als einen unbehelmten Radler (Radlerinnen, wenn sie als solche erkennbar sind, bekommen laut dieser Studie sogar einen größeren Sicherheitsabstand gewährt). Ein Problem mit dieser Studie ist, dass diese 8,5 Zentimeter angesichts eines Mindest-Überholabstands von etwa 1,20 Metern – ob mit oder ohne Helm – nicht wirklich sicherheitsrelevant wäre; ein viel größeres Problem mit dieser Studie ist, dass ihre Daten den Zusammenhang zwischen Helmtragen und Überholabstand überhaupt nicht belegen können.
Eine Studie, die in diesem Beitrag über die Überschätzung des Sicherheitseffekts von Warnwesten zitiert wird, kam zwar zu dem Resultat, dass diese Westen “nur” in 70 Prozent der Fälle die Sichtbarkeit der RadfahrerInnen für AutofahrerInnen erhöhen – aber diese Studie belegt damit nicht etwa die Unwirksamkeit der Westen, sondern weist nur darauf hin, dass durch zusätzliche Reflektoren, die nicht nur die Position der Radler markieren, sondern auch ihre Bewegungen (zum Beispiel das Drehen des Kopfes als Andeutung eines bevorstehenden Abbiegemanövers) vermitteln können, der Sicherheitseffekt noch erhöht werden könnte.
Aber gab es da nicht mal eine Studie, die belegte, dass Helmtragen das Sicherheitsemfpinden der RadfahrerInnen verändert? In der Tat, diese beispielsweise – aber die sagt nur aus, dass Radfahrer, die ans Helmtragen gewöhnt sind, sich ohne Helm unsicherer fühlen, während bei sonst nicht-helmtragenden RadlerInnen kein signifikanter Unterschied in der Risikowahrnehmung mit oder ohne den harten Hut zu beobachten ist.
4. Warum müssen dann nicht beispielsweise auch Fußgänger oder Autofahrer Helme und Schutzwesten tragen?
Auch das Argument kommt immer wieder: Das Risiko für Kopfverletzungen sei für Fußgänger oder Autofahrer ja genau so hoch wie für Radfahrer – warum müssen die dann keine Helme tragen? Davon abgesehen, dass dies erst mal mit brauchbaren Zahlen nachgewiesen werden müsste – so ist zum Beispiel mit dem “Fußgänger-Risiko” quasi das gesamte Unfallrisiko zu Fuß, also auch im Haushalt oder bei anderen Tätigkeiten, mit gemeint und erfasst auch Risiken, die nicht spezifisch durch das Zu-Fuß-Gehen entstehen – ist das letztlich ja eher ein Argument für den generellen Nutzen der Schutzkleidung. Dass dies nicht praktikabel wäre, ist kein Argument dagegen. Aber bei Warnwesten zieht dieses Argument schon gar nicht: Seit dem 1.7 müssen Autofahrer solche Westen mit sich führen und bei Pannen – oder anderen Situationen, die sie zwingen, sich auf oder unmittelbar an der Fahrbahn aufzuhalten – diese Westen auch tragen. Auch Straßenbauarbeiter, Rettungsdienste oder Verkehrspolizisten tragen im Einsatz reflektierende Warnkleidung. Und selbst bei FußgängerInnen und vor allem JoggerInnen, die nachts auf schlecht beleuchteten Straßen unterwegs sind, sehe ich diese Warnwesten – oder andere reflektierende Elemente auf ihrer Kleidung sehr häufig.
Doch letzten Endes geht es ja gar nicht darum, ob Helme und Westen die Sicherheit der VerkehrsteilnehmerInnen erhöhen – sondern allein um die Frage, ob dies gesetzlich vorgeschrieben werden darf. Und das ist nochmal ein ganz anders Problem: Es wird immer Menschen geben, die sich selbst gegen die sinnvollste Vorschrift wehren – weil sie sich nun mal keine Vorschriften machen lassen wollen. Die meisten wachsen mit der Pubertät aus dieser Trotzphase heraus, und sie wissen, dass es in einem Gemeinwesen immer verbindliche Regeln geben muss – auch die rote Ampel ist eine “Vorschrift”, ebenso wie die Tatsache, dass Autos funktionierende Bremsen haben müssen oder dass ein Verkäufer seine Ware spätestens nach Erhalt des Kaufpreises rausrücken muss. Nicht alles lässt sich natürlich gesetzlich regeln, und ob eine solche Vorschrift überhaupt durchsetzbar wäre, steht nochmal auf einem anderen Blatt. Aber das ändert erst mal nichts an der Nützlichkeit dessen, was sie zum Inhalt hat.
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