Im Autorenprofil meines Blogs ist nachzulesen, dass ich jungen Frauen und Männern, die am Massachusetts Institute of Technology einen Abschluss anstreben, “das Schreiben” beibringe. In der Tat werden meine Kolleginnen und Kollegen der Abteilung Writing, Rhetoric, And Professional Communication, obwohl wir (wie schon der Name des Programms sagt) ein weites Feld an kommunikativen Aufgaben abdecken wollen, gemeinhin als “writing instructors” – sprich: als SchreiblehrerInnen – bezeichnet. Was immer wieder zu Verwirrung führt, nicht nur unter den Studierenden, sondern auch unter den Lehrenden: Alle scheinen gleichermaßen überzeugt zu sein, dass meine (unsere) Aufgabe darin besteht, den korrekten Gebrauch von Rechtschreibung und Grammatik zu vermitteln, Satzbau und Interpunktion zu korrigieren und ansonsten auf das Einhalten vorgegebener Formatierungsvorschriften zu achten. Und wenn ich ihnen sage, dass meine Tätigkeit damit praktisch nichts zu tun hat, sind sie bestenfalls konsterniert, im schlimmsten Fall empört.
Dass ich mir darüber gerade heute Gedanken mache, ist das Resultat eines Zufalls:
Es gibt keine “falsch” oder “richtige” Sprache! (Es gibt höchstens Rechtschreibfehler)
schrieb Florian Freistetter in einem Kommentar zu seinem Beitrag über Germknödel und den Zusammenbruch der Weltwirtschaft, was an der dortigen Stelle eher wie eine Nebensache wirkt, aber in Wirklichkeit eine sehr fundierte und elementare Beobachtung ist. Und dass selbst der relativierende Klammersatz über die Rechtschreibung nicht mal nötig sein müsste, ergab sich für mich nach der Lekture dieses Beitrags in der WELT zur Diktatur der Autokorrekturfunktion: Ob etwas “richtig” oder “falsch” ist, sollte nicht primär dadurch definiert werden, wie es buchstabiert wurde.
Und ehe ich jetzt von Sprachpuristinnen und -puristen gelyncht werde: Ich erkenne durchaus an, dass es Regeln für Grammatik und Rechtschreibung geben sollte. Und ich selbst versuche ja auch, mich nach bestem Vermögen daran zu halten. Aber diese Regeln sind nur Hilfslinien, wie die Linierung der Schulhefte, in denen wir dereinst das “schöne” Schreiben mit der Hand lernen sollten. Aber warum sollte ein Aufsatz, oder gar eine Rechenaufgabe, nur deswegen schlechter benotet werden, weil der Verfasser oder die Verfasserin keine gestochen schön auf Zeile, mit korrekten Rundungen sowie Ober- und Unterlängen geformte Kursivschrift benutzt hat? So absurd das eigentlich klingen sollte: in meiner Schule jedenfalls war dies die Regel (die mich so manchen Punktabzug gekostet hat, selbst wenn inhaltlich an dem Geschriebenen nichts zu bemuangeln war).
Doch ich gehe noch einen Schritt weiter: Ebenso wie die Linierung allenfalls eine Hilfestellung geben soll, aber nicht die Form über den Inhalt des Geschriebenen stellt, sollten Rechtschreibung und Grammatik nur bei der Sortierung der Gedanken hilfreich sein – aber sie dürfen nicht wichtiger werden als der Inhalt. Ich selbst komme aus einer Dialektregion Deutschlands, in der die “Normalsprache” sehr deutlich und gelegentlich sogar drastisch von der Grammatik und der “Rechtschreibung” (wenn wir mal Phonetik mit Schrift gleichsetzen) der deutschen Hochsprache abweicht. Die Absurdität der Annahme, dass es in diesem Dialekt nicht möglich sei, profunde Gedanken zu artikulieren, sollte eigentlich schon allgemein erkennbar sein, aber falls jemand daran zweifelt, verweise ich darauf, dass besipielsweise der Dichter Friedrich Rückert oder auch die Gründer jener Organisation, aus der die heutige Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina hervorging, mit etwa dem gleichen Zungenschlag sprachen wie ich…
Aber zurück zum Thema. Wenn ich sage, dass ich jungen Menschen “das “Schreiben” beibringe, dann meine ich damit, dass sie lernen sollen, ihre Ideen, Beobachtungen, Resultate, Analysen, ihre Ambitionen und ihre Fehlschläge – halt alles, was Wissenschaft und Forschung so ausmacht – so zu organisieren und zu formulieren, dass sie für andere transparent und nachvollziehbar werden. Da gibt es sicher auch Momente, in denen ein Rechtschreibfehler oder ein falsch gesetzter Reflexivbezug den Sinn verstellt – und darauf weise ich dann auch hin. Aber ein fehlendes Komma, ein Schreibfehler oder – wie es bei Studentinnen und Studenten aus slawischen Sprachräumen, aber auch aus Lateinamerika oder China häufiger vorkommt – ein fehlender Artikel sind da längst nicht so wichtig wie ein fehlender logischer Zwischenschritt oder gar ein fundamentaler Denkfehler. Das ist es, was wir mit Rhetorik meinen – Sprache nicht als ästhetischer und formal definierter Selbstzweck, sondern als Mittel zur Überzeugung und Vermittlung. “Korrekte” Sprache ist nicht dadurch definiert, dass sie frei von formalen Fehlern ist, sondern dass sie schlüssig und überzeugend ist.
Kommentare (30)