Mehr als zwei Jahre nach dem Bombenanschlag auf die Zuschauer und Teilnehmer des Marathons in Boston hat sich die US-Justiz nun zu einer Entscheidung über das Strafmaß durchgerungen: Dschochar Zarnajew (21) wurde von einem Bundes-Schwurgericht, das ihn am 8. April bereits unter anderem des vierfachen Mordes schuldig gesprochen hatte, zum Tod verurteilt. Bei dem Anschlag selbst, den der damals 19-jährige Dschochar gemeinsam mit seinem Bruder Tamerlan mit selbst gebastelten Bomben verübt hatte, starben drei Menschen – der achtjährige Martin Richard, die 29-jährige Krystle Campbell und die aus China stammende Boston-University-Studentin Lingzi Lu (23); Sean Collier, ein 27-jähriger Offizer Campus-Polizist des Massachusetts Institute of Technology, wurde am 19. April, vier Tage nach dem Bombenanschlag, von den Zarnajew-Brüdern in seinem Dienstfahrzeug auf dem Gelände des MIT erschossen.
Dieser Fall geht mir, wie ich hier damals schon geschrieben hatte, nicht nur räumlich näher. Das MIT ist mein Arbeitgeber; ich komme praktisch täglich an der Stelle vorbei, an der Sean Collier ermordet wurde (sie ist inzwischen in eine Gedenkstätte umgebaut worden), und Collier war mit einigen meiner Studentinnen und Studenten bekannt und, wie es schien, befreundet. Aber auch zum Täter Dschochar Zarnajew gibt es eine leider viel zu kurze Verbindung, als dass ich mir hier eine komfortable innere Distanz aufbauen könnte: Er besuchte die gleiche High-School, in die auch mein Sohn jeden Tag geht; das ist zwar keine besonders enge Verbindung (die Cambridge Rindge and Latin School ist die einzige öffentliche High School der Stadt, und auch wenn sie ein paar prominente Ehemalige aufzuweisen hat, ist es jedenfalls in der Stadt selbst nichts Besonderes, diese Schule zu besuchen). Aber einige der LehrerInnen dürften den jungen Tschetschenen (und vielleicht sogar seinen knapp sechs Jahre älteren Bruder Tamerlan, der bei einer Schießerei mit der Polizei, wenige Stunden nach dem Mord an Collier, ums Leben kam) jedenfalls noch gekannt haben.
Das alles erkläre ich, um meine Befangenheit generell auszudrücken. Hinzu kommt natürlich meine ebenso generelle Ablehnung der Todesstrafe, die ich ja in meinem Blog schon mehrfach thematisiert habe. Doch selbst wenn ich diese persönliche Voreingenommenheit ausklammere, kommt immer noch für mich heraus, dass dieses Todesurteil nach allen Kriterien der Vernunft grotesk ist.Wo fange ich an?
Zum Beispiel beim Alter des Täters. Zum Zeitpunkt des Anschlages war er noch nicht mal 20 Jahre alt, und nach gängiger Rechtsauffassung in den USA damit noch nicht mal alt genug, um ein Bier zu trinken – mal davon abgesehen, dass er das als Muslim sowieso nicht gedurft hätte. Es geht hier darum, dass die US-Justiz einer Person unter 21 Jahren nicht die Reife zuspricht zu entscheiden, ob sie Alkohol konsumieren kann oder nicht, aber gleichzeitig bereits Elfjährige als strafmündig betrachtet.
Ein anderes Absurdum ist die Tatsache, dass eine klare Mehrheit der Bewohner Bostons sich gegen die Todesstrafe für Zarnajew ausgesprochen hatte. Auch die Familie des jüngsten Todesopfers, Martin Richard, hatte die US-Justiz ausdrücklich darum ersucht, kein Todesurteil auszusprechen. Und zwar mit sehr nachvollziehbaren und respektablen Gründen: Ein Todesurteil zieht automatisch ein kompliziertes und langwieriges Berufungsverfahren durch alle Instanzen nach sich, und in jeder Phase dieses Berufungsverfahrens müssen die Angehörigen damit rechnen, erneut als ZeugInnen auftreten zu müssen. Damit wird ihnen jede Chance genommen, einen inneren Frieden zu finden.
Aber das Urteil ist auch aus justizpraktischer Sicht unsinnig. Erstens, weil es die Staatskasse etwa dreimal so stark belastet wie ein lebenslanges Strafmaß, wobei die Kosten der Inhaftierung in beiden Fällen berücksichtigt sind. Und das mit ungewissem Ausgang: Von den 69 Todesurteilen nach Bundesstrafrecht (die parallel zur jeweiligen bundesstaatlichen Justiz aktiv werden kann), die seit 1988 verhängt wurden, sind letztlich nur drei vollstreckt worden. Zweitens aber, weil dieses Urteil einem de-facto-Moratorium widerspricht, das derzeit für die Todesstrafe unter Bundesgerichtsbarkeit in Kraft ist.
Da sich zudem auch keine abschreckende Wirkung der Todesstrafe nachweisen lässt, ist auch diese Begründung nicht haltbar.
Was bleibt, ist Rache. Die ist letztlich das einzige Motiv, das den Befürwortern der Todesstrafe bleibt: Nach dem (scheinbar alttestamentarischen) Grundsatz, dass die Strafe der Tat angemessen sein müsse, verkaufen sie solche Urteile gerne als “gerecht”. Doch gerecht wäre überhaupt nur, wenn diese Strafe jedermann und -frau gleichermaßen drohen würde – was schon mal nicht der Fall ist, wenn man weiß, dass dieses Urteil überproportional gegen schwarze Mörder verhängt wird, umso eher, wenn das Opfer hellhäutig war. Oder wenn es wenigstens dem Gerechtigkeitssinn der betroffenen Gesellschaften entsprechen würde, doch auch das trifft nicht zu (siehe oben: sowohl die Angehörigen des jüngsten Opfers als auch die Mehrheit der Bostonians lehnte dieses Strafmaß ab). Und selbst die Behauptung, dass mit dem Urteil den Opfern Gerechtigkeit widerfahren würde – obwohl die sowieso nichts davon hätten – ist nicht haltbar. Denn letztlich werden in der Urteilsbegründung nur zwei Todesopfer “gerächt”: Nur die Teile des Schuldspruchs, die sich auf die Todesopfer Martin Richard und Lingzi Zu beziehen, wurden zur Begründung des Strafmaßes herangezogen. So gesehen wird das Todesurteil gegen Dschochar Zarnajev nicht mal sich selbst gerecht.
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