Der Nobelpreis ist ja, das wird niemand anzweifeln, ein Preis für wissenschaftliche Leistung. Und er geht typischer Weise an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. So weit, so gut. Was aber, wenn der prestigeträchtige (und geldwerte) Preis an eine Person verliehen wird, deren Umfeld eher in die Regionen der Pseudowissenschaft und Esoterik fällt? Diese Frage drängte sich mir auf, als ich erfuhr, dass der diesjährige Nobelpreis für Physiologie oder Medizin unter anderem an Tu Youyou verliehen wird, Professorin und leitende Forscherin an der China Academy of Chinese Medical Sciences, die bis vor noch nicht allzu langer Zeit als Akademie für Traditionelle Chinesische Medizin firmierte und sich auch heute noch dieser Tradition verschrieben hat:
China Academy of Chinese Medical Sciences (CACMS) was established in 1955 and previously named as China Academy of Traditional Chinese Medicine (CATCM) … is a national comprehensive institution for scientific research, clinical medicine and medical education on traditional Chinese medicine (TCM), which is directly under the leadership of the State Administration of Traditional Chinese Medicine (SATCM)
Frau Tus preisgekrönte Arbeit ist in ihrem medizinischen, genauer gesagt: pharmakologischen Wert sicher nicht umstritten – sie hatte bereits in den späten 60-er Jahren entdeckt, dass ein Extrakt des einjährigen Beifuß (Artemisia annua) ein wirksames Mittel gegen Malaria ist; sie entwickelte ein Verfahren, das dieses Artemisinin bei niedrigen Temperaturen (bei höheren Temperaturen, etwa um den Siedepunkt des Wassers herum wird der Wirkstoff zerstört) aus der Pflanze extrahieren kann. Für diese Leistung wurde sie bereits vor vier Jahren mit dem Lasker-DeBakey Clinical Medical Research Award ausgezeichnet. Der pharmakologische Nutzen von Frau Tus Arbeit ist, wie gesagt, auf breiter Basis anerkannt.
Aber sie ist eben nicht nur zufällig oder gar unfreiwillig im Umfeld der Traditionellen Chinesischen Medizin gelandet – sie fühlt sich der TCM tief verbunden. Und gewiss hätte sie ihre Entdeckung nicht – oder vielleicht, wenn überhaupt, nur sehr viel später – gemacht, wenn sie nicht in einem damals rund 400 Jahre alten Manuskript einen entsprechenden Hinweis gefunden hätte.
All das wäre eigentlich nur eine Fußnote zu einem sicher verdienten Nobelpreis (Malaria ist immer noch eine der tödlichsten Infektionskrankheiten weltweit und fordert jährlich rund eine Million Todesopfer). Doch aus praktischer Erfahrung weiß ich, dass vor allem unter ScienceBlog-LeserInnen eine hohe Sensibilität gegenüber der TCM besteht, und diese zumeist mit der Sorge gekoppelt ist, dass allein schon die Annäherung evidenz- und wissenschaftsbasierter Medizin an die TCM dazu führen könnte, esoterische Pseudomedizin auch akademisch – und damit erst recht in der alltäglichen Behandlung klinischer Erkrankungen – salonfähig zu machen. Ich bin einfach mal neugierig, was meine LeserInnen dazu sagen…
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