“Ritual human sacrifice promoted and sustained the evolution of stratified societies” verkündet eine Überschrift in der aktuellen Ausgabe von nature – Menschenopfer hätten demnach den Zweck gehabt, die Entwicklung einer sozialen Hierarchie voranzutreiben. Und das klingt, wenn man sich (wie ich jedenfalls, und vermutlich auch viele MitleserInnen) Menschenopfer spontan erst mal als eine rituelle Gabe an irgendwelche Götter vorstellt, überraschend säkular. Wer mehr über das Thema erfahren will, zum Beispiel wie die Forscher der University of Auckland (Neuseeland) und des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte unter anderem mit – wie man heute so sagt – “computerbasierten Methoden” 93 historische austronesische Kulturen daraufhin zu analysieren, wie Menschenopfer einerseits und die soziale Schichtung andererseits dort korrelierten, kann sich, sofern kein nature-Abo griffbereit ist, diese Pressemitteilung der Max-Planck-Gesellschaft durchlesen – oder einfach mal die Begriffe Menschenopfer, hierarchische Gesellschaft und Macht googeln. Das ist nicht das Thema, das mich beschäftigt.
Ich kam gedanklich ins Stolpern, als schon im ersten Satz des nature-Abstracts von “archaelogical record”, also von archälogischen Quellen die Rede war, in denen man nach den Zeugnissen solcher Menschenopfer suchen müsse. (Die These, dass Menschenopfer eher der sozialen Kontrolle dienten, wurde übrigens nicht erst in dem aktuellen nature-Beitrag aufgestellt, sondern existiert schon länger – das Paper ist nur das erste, das mit modernen analytischen Methoden versucht, die bisher primär anekdotisch-historischen Befunde zu überprüfen und, wie gesagt, auch zu bestätigen.) Auch der Hinweis, dass es sich dabei um “die dunkle Seite der Religion” handele, bringt mich ins Grübeln: Was, bitteschön, ist denn nicht dunkel an Religionen, die mit dem Hinweis auf irgendwelche Jenseitigkeiten versuchen – weltweit und mit milliardenfachem Erfolg, wie wir wissen – Menschen zu Handlungen zu manipulieren, die allenfalls im Interesse einer kleinen Elite sein können? Aber auch das ist nicht die primäre Frage, die mich seitdem beschäftigt. Mich wundert, warum Menschenopfer als etwas beschrieben werden, das nur in der (Prä)Historie unserer Species geschehen ist…
Was anderes als ein Menschenopfer wären zum Beispiel die öffentlichen Enthauptungen durch Schergen des Daesh (auch als “Islamischer Staat” bekannt)? Welchen anderen Zweck als “die ultimative Demonstration ihrer Macht” verfolgen die saudischen Machthaber, die selbst wegen solch archaischer “Delikte” wie Apostasie oder Hexerei öffentlich Köpfe abschlagen lassen? Waren nicht die Lynchmorde an Tausenden von Schwarzen in den USA ebenso “ein besonders effektives Mittel der sozialen Kontrolle”, durch das Segregation und – subtiler, aber dafür umso nachhaltiger – Diskriminierung bis in unsere Tage erhalten blieben? Werden Völkerkundler und Historiker in ein paar Jahrtausenden nicht auch von Menschenopfern sprechen, wenn sie Belege dafür finden, wie zahlreiche junge amerikanische Männer dunkler Hautfarbe von öffentlichen Bediensteten zumeist öffentlich getötet wurden? Opfer, die vorgeblich dem Geist der öffentlichen Sicherheit gebracht wurden?
Selbst die legitimierte und juristisch sanktionierte Tötung, gemeinhin als “Todesstrafe” bekannt und offenbar auch in Deutschland keineswegs nur als historische Aberration einzuschätzen, ist letztlich nur ein Mittel, “die Angehörigen der unteren sozialen Schichten zu entmutigen und ihnen Angst einzuflößen” (Zitat von Joseph Watts, dem federführenden Autor der eingangs erwähnten Studie) – wie anders wäre zu erklären, dass überproportional viele Afroamerikaner in den Todeszellen sitzen? (Anteil an der US-Bevölkerung: etwa 13 Prozent; Anteil an den Todeskandidaten: rund 42 Prozent) Wer nun denkt, dass dies nicht vergleichbar sei, immerhin gehe es bei den Todesurteilen ja um Gerechtigkeit, und Basis sei ein ordentliches Gerichtsverfahren: Es ist längst bekannt, das es keineswegs notwendig ist, auch nur irgendeine Straftat begangen zu haben, um in der Todeszelle zu landen – 337 Todeskandidaten konnten seit 1992, dem Start des Innoncence Project (einer Initiative der Strafverteidiger Barry Scheck und Peter Neufeld), durch DNA-Tests nachträglich ihre Unschuld beweisen. Und in der Entscheidung Herrera v. Collins hatte der damalige Vorsitzende Richter des US Supreme Court, William Rehnquist, generell kein verfassungsrechtliches Problem darin erkennen wollen, wenn ein unschuldiger Mensch hingerichtet würde – so lange das Verfahren ordnungsgemäß verlaufen und das Urteil rechtskräftig sei. Letztlich heißt das nur: Für einen reibungslosen Ablauf des amerikanische Justizapparats wurden vermutlich schon viele Menschenleben geopfert.
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