Rituelles Menschenopfer der Azteken, dargestellt auf Seite 141 (folio 70r) des Codex Magliabechiano, via Wikimedia Commons

Wer also denkt (oder ganz ehrlich und wohlmeinend hofft), dass diese barbarische Neigung, Menschenleben aus Machtinteresse und zum Wohle eines irgendwie gearteten höheren “Geistes” zu opfern, mit unsern (prä)historischen Ahnen ausgestorben sei, sollte vielleicht nur ein bisschen aufmerksamer die Zeitung lesen…

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Kommentare (12)

  1. #1 Chemiker
    8. April 2016

    Und in der Entscheidung Herrera v. Collins hatte der damalige Vorsitzende Richter des US Supreme Court, William Rehnquist, generell kein verfassungs­rechtliches Problem darin erkennen wollen, wenn ein unschuldiger Mensch hingerichtet würde – so lange das Verfahren ordnungs­gemäß verlaufen und das Urteil rechts­kräftig sei.

    Das ist doch generell so in der Justiz. In Europa landet zwar keiner in der Todes­­zelle, aber wer zu Un­recht verurteilt wird, der hat gegen­über dem Justiz­betrieb keine Regreß­ansprüche. Weil „Prinzip der freien Beweis­würdi­gung“ und „rechts­kräfti­ges Urteil“, also das Gericht definiert den Täter wie ein ex cathedra lehrender Papst.

    Juristen behaupten ja auch gerne, schuldig sei der und nur der, der schuldig gesprochen wird. Der Sach­verhalt oder was man davon zu wissen glaubt fließt viel­leicht in das Urteil ein, aber nachdem das Urteil steht, spielen Fakten keine Rolle mehr.

    Das hat schon etwas Rituelles, so wie ein Bann­spruch durch einen Schamanen. Besonders gruselige Bei­spiele aus Deutsch­land wären dabei Horst Arnold oder der merk­würdige Fall der Familie Rupp. Und natürlich der Klassiker Worms (dabei kam es zwar zu keinem Fehl­urteil, aber eine Tote gab es trotz­dem, und jede Menge ge­stoh­le­ne Lebens­zeit und persönliche Tragödien.

    In keinem dieser Fälle spielten Fakten irgend­eine Rolle (es gab gar kein Ver­brechen, das hätte be­straft werden können), Richter fällten idioti­sche Urteile, Menschen verloren Jahre ihres Lebens und im Fall Arnold führte das sogar zum Tod des Opfers.

    Konsequenzen für die (Schreib­tisch)­täter sind nicht bekannt.

  2. #2 Anderer Michael
    8. April 2016

    Ist lesenswert. Stärkste hierachische Struktur 67% Menschenopfer, bei schwächster Hierarchie 25% Menschenopfer. Jetzt komme ich mir schon fast wie ein regressiver Linker vor, wenn ich auf die in Europa gefundenen Moorleichen hinweise, bei einigen gibt es starke Hinweise für Ritualmorde/Menschenopfer. In Irland allerdings betraf es vermutlich auch Königskandidaten.
    Auch die Hexen/Hexer Verbrennungen in Mitteleuropa in der Neuzeit sind zu nennen. Das ein mit modernen Mythen überdecktes Zeitgeschehen, bei dem durchaus die unteren Schichten die treibende Kraft gewesen sein sollen.
    Die von Ihnen verlinkte Untersuchung des Erlanger Juristen Streng ist interessant. Sehr viele Jurastudenten befürworten die Todesstrafe und im Einzelfall Folter zur Rettung von Menschenleben. Ersteres ist erschreckend (wobei aufdas moralische Empfinden folgt nicht immer ein darauf basierendes Handeln, sondern auch ein rational abwägendes Handeln) die Folterbefürwortung muss man differenzieren. Der genannte Einzelfall ist für mich ein unauflösbarer moralischer gordischer Knoten, der zum Glück in der BRD nur einmal so ungefähr aufgétreten ist. Man stelle sich vor. Ein Entführter in einer Grube in eiskalter Winternacht, die Nacht wird er nicht überleben. Der überführte Entführer verschweigt das Versteck aus Sadismus/Menschenhass. Die Polizei muss vor die Familie treten und sagen:” Ihr Angehöriger wird nun sterben, weil dem Entführer kein körperliches Leuid zugefügt werden darf.” Ich weiß keinen Ausweg aus diesem Dilemma und möchte kein Polizist in dieser Situation sein. Ist das nicht auch ein Menschenopfer, in dem Fall nicht zur Stabilisierung von Hierarchien, sondern der Menschenrechte? Die Frage ist nicht polemisch oder politisch ,mit Hintergedanken, sondern ernst gemeint. Ich will keinen Folterparagraphen im Gesetzbuch haben. Aber wer weiß einen Ausweg?

  3. #3 Jürgen
    8. April 2016

    Keine Folter. Keine Todesstrafe. Unter zivilisierten Menschen eine Selbstverständlichkeit. Diese beide Punkte sind nicht verhandelbar.

  4. #4 Chemiker
    8. April 2016

    Keine Folter. […] Unter zivilisierten Menschen eine Selbstverständlichkeit.

    Unschuldige Tote sind aber auch nicht schön. Das von Anderer Michel zitierte Szenario ist ein ethisches Dilemma, und läßt sich kaum mit einem „Na, selbst­verständ­lich muß das Ent­führungs­opfer sterben, wir haben eben unsere huma­nis­tisch und zivilisa­torisch wichtigen Prinzipien!“ aus der Welt schaffen.

    Hat aber finde ich nicht viel mit dem Thema des Artikels zu tun. Da ging es ja um die Klassen­stabilisie­rung durch rituelle Opferun­gen, und Folter ist doch eine ganz andere Bau­stelle weil sie nicht öffentlich praktiziert wird.

  5. #5 Cornelius Courts
    8. April 2016

    @Jürgen: ah, gut, daß Du dazu schon was Vernünftiges geschrieben hast. Ich hatte den Artikel auch schon auf meinem “vielleicht”-Stapel, dann brauch ich ja nicht mehr 🙂

  6. #6 Joseph Kuhn
    8. April 2016

    Opfern wir nicht auch dem Gott Mammon ständig Menschen?

  7. #7 Jürgen Schönstein
    9. April 2016

    @Joseph Kuhn
    Sicher, und nicht nur dem – auch der autofahrenden Lust am Rasen fallen Menschen zum Opfer. Auch der Leichtsinn, also das in Anspruch genommene Recht, Konsequenzen des Handelns nicht bedenken zu müssen, fordert immer wieder Opfer. Aber das sind, ohne die damit verbundene Tragik zu beschönigen, metaphorische “Opfer”. Mir ging es darum zu zeigen, dass auch in der Gegenwart – also nicht nur in der historischen und prähistorischen Vergangenheit, als Menschen noch scheinbar “primitiver” waren (dazu hätte ich auch ein paar längere Gedanken – ein anders Mal) – noch rituelle, zumeist öffentliche Tötungen stattfinden, die nach den gängigen Definitionen (siehe das Paper, das mein Posting inspiriert hat) echte “Menschenopfer” sind.

  8. #8 rolak
    9. April 2016

    scheinbar “primitiver” — noch rituelle, zumeist öffentliche Tötungen

    Auf dem ´scheinbar´ hätte ich auch bestanden, Jürgen ;‑) Ansonsten: Ja, diese filmreifen Menschenopfer zum Wohle der Gesellschaft (gerne auf dem Umweg über die Umschmeichelung transzendierter unsichtbarer Freunde) finden selbstverständlich zumindest hier auf dem Neumarkt deutlich seltener statt als auf den Marktplätzen noch vor wenigen Dekaden¹.

    Doch eigentlich ist nur eine sich entwickelnde Abstraktion zu erkennen von der direkten Aktion zur impliziten, stillschweigenden, durch karitative uä Maßnahmen gewissensgedämpften – jedenfalls ignorierten bis akzeptierten Opferung. Egal ob nun via/durch Verkehr, Export gefährlicher Arbeitsbedingungen, Ausbeutung oder was auch immer sonst bis hin zu SelbstmordAttentaten. Es scheint, als würde ein ´ich bin aber nicht zum Zuschauen hingegangen´ wesentlich mehr Möglichkeiten bieten. Egal ob echte Opferung oder ´in weiterem Sinne´.

    _____
    ¹ wesentlich lieber hätte ich ´Jahrhunderten´ eingetippt, aber…

  9. #9 Cora Curtz
    10. April 2016

    @Cornelius Courths #5
    Bleib Du mal schön bei Klassik, Blow-Jobs und Rilke, Schatz!

  10. #10 Anderer Michael
    10. April 2016

    Dieses sind die Argumente/Kennzeichen/ Definitionen für Menschenopfer in der verlinkten Pressemitteilung. “…Die Machthaber benutzten Menschenopfer dazu, Tabubrüche zu bestrafen, die Angehörigen der unteren sozialen Schichten zu entmutigen und ihnen Angst einzuflößen. Dadurch waren sie in der Lage, soziale ….Kontrolle aufzubauen und zu verstärken.
    Menschenopfer boten ein besonders effektives Mittel der sozialen Kontrolle, da sie eine übernatürliche Rechtfertigung für die Bestrafung lieferten. Herrscher, wie Priester und Häuptlinge, galten oft als Gesandte der Götter, und die rituelle Tötung eines Menschen war die ultimative Demonstration ihrer Macht….
    Wie unsere Ergebnisse zeigen, führten solche Tötungsrituale dazu, dass Gesellschaften mit hoher Wahrscheinlichkeit eine starke Hierarchie entwickelten und eher nicht zu einer egalitären Gesellschaftsform zurückkehrten.“
    Wenn man dieses als Grundlage passt von allen genannten neuzeitlichen Beispielen nur die Enthauptungen der Isis. Nimmt man lediglich Aufrechterhaltung von Hierachie passt eine ganze Menge, am besten und unzweifelhaft Rolak´s Beispiel der Ehrenfelder Gruppe.
    Lässt man gar die Hierarchie als Zweck weg und nimmt einen anderen Grund, dann passen sogar Herr Kuhn´s Beispiele und mein theoretisches Beispiel (Menschenopfer zur Aufrechterhaltung des Folterverbotes ), wobei ich hoffe, es tritt nie ein.
    Um ein Missverständnis klar entgegen zu stehen, ich möchte keine Folter in unserem Land und anderswo haben.

  11. #11 Earonn
    12. April 2016

    Kann man auch Fälle, in denen Menschen “nur” zu Schaden kommen, als Menschenopfer bezeichnen? Steubenville fällt mir da spontan ein, aber vielleicht auch die Ansicht einiger zu Jeremy Clarks Verprügeln seines Kollegen. Frei nach dem Motto: opfert jemandem, um den Liebling bei Laune zu halten.

    Auch damit wird ja ein gewisser Status Quo formuliert und untermauert: der des ‘großen Genies’, dessen Talent mehr wert ist als die Gesundheit eines anderen.

    Unsere Gesellschaft ist gegenüber dem Töten eines Menschen – außer bei der Todesstrafe – viel vorsichtiger, das bedeutet aber nicht automatisch, dass das Opfer nicht eine andere Form annimmt.

    Oder seht ihr da grundlegende Unterschiede, die einer derartigen Auslegung widersprechen?

  12. #12 Wilhelm Leonhard.Schuster
    13. April 2016

    Es gibt das geflügelte Wort :

    “Der” (Chef,Mensch,ct.)geht über Leichen!
    (Dies nur krankhafte Phantasie? Wohl kaum!)

    Wer vermag in diesen Fällen zu richten ?
    Keiner kann sie untersuchen.
    Allenfalls sind: ” sonderbare Auffälligkeiten” über die Zeit hinweg gesehen, zu beobachten.
    Im übrigen, wird sich niemand an dieses Thema rantrauen-wegen: “Mittelalterlichem Hexenthemas” ct.!